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Am Brunnen vor dem Tore da steht kein Brunnen mehr– über Brunnen, Stadt und Heimat

Vor einigen Jahren musste ich einen Brunnen zuschütten: ein Wasserspiel aus den 1950er Jahren. Fontänen und Beleuchtung waren schon lange dem Vandalismus zum Opfer gefallen, das einstmals blaue, nun verblichene leere Brunnenbecken fristete über Jahre ein trauriges Dasein. Der Standort? Direkt vor dem Bahnhof einer kleinen Großstadt im Südwesten Deutschlands, die sich bemüht, mehr zu sein als sie ist. Was für ein Willkommensgruß. Die städtische Grünflächenabteilung, die ich seinerzeit geleitet habe, hätte den Brunnen gern saniert. Wir rechneten und prüften, machten Pläne und Vorschläge. Doch bürgermeisterliches Desinteresse (Zitat: „Schüttet das Sch…ding zu“), zögerliche Stadträte, die die Sanierungskosten nicht wahrhaben wollte („Ihr habt das doch teuer gerechnet, das geht billiger“), und der eisige Wind kahlschlagender großstädtischer Stadtentwicklungspläne fegten über den Brunnen hinweg. Danach fegte über meine Kollegen und mich ein Sturm öffentlicher Empörung, waren wir doch diejenigen, die im Rampenlicht standen und das Brunnenbecken zugeschüttet hatten. Örtliche Zeitung und Bildertanz, ein abgeklärt kluger und mitunter romantisch verklärender Bilderblog, kommentierten das Geschehen bissig. Über Wochen und bis heute entrüsteten sich Bürgerinnen und Bürger.

Was kaum jemand auf dem Schirm hatte: viele Menschen fühlten sich mit dem Brunnen verbunden. Sonntägliche Spaziergänge in Kindheit und Jugend, später der schnelle Blick aus dem Auto, Willkommens- und Abschiedsbild bei Reisen mit der Bahn – der Brunnen als seelisches Erinnerungsstück einer Stadt und Symbol für die Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre, als alles besser und vieles schnell vergessen werden sollte. Der Brunnen – nach dem Zuschütten wurde es offensichtlich – war offenbar ein Stück Heimat.

Der Begriff Heimat wird aktuell inflationär verwendet, hat es sogar in den Titel eines Bundeministeriums geschafft. Doch was ist Heimat wirklich? Als Begriff gewann Heimat erst mit der Industrialisierung und der rasanten Urbanisierung im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Und bis heute hat er immer dann Konjunktur, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse rasant verändern: durch Wachstum, Ein- und Auswanderungswellen, Globalisierung, Digitalisierung. Heimat wird dann zum kulturellen Sehnsuchtsort.

Doch über die kulturelle Deutung von Heimat als Gefühl hinaus wird der Begriff zunehmend auch politisch besetzt, als fühlbares Gegenstück zur modernen, schnellen und kalten Gesellschaft. Die Süddeutsche schrieb am 2. Januar 2018 dazu: „Heimat ist also größer als die Familie und kleiner als das Vaterland. Damit beschreibt sie eine Sphäre von „Gemeinschaft“ vor dem Abstraktum der modernen „Gesellschaft““ und weiter „“Heimat“ wird so zu einer eigentümlich vorpolitischen Sphäre, die mit allerlei Gefühls- und Erinnerungswerten aufgeladen wird.“ (Gustav Seibt: Was ist Heimat? Ein gutes Gefühl. In Süddeutsche Zeitung 02.01.2018)

Und hier findet sich der Anknüpfungspunkt zu den Brunnen: Brunnen finden sich irgendwo zwischen Familie und Vater(Mutter)land. Brunnen waren und sind Symbole städtischen Lebens, Ausdruck der Verfasstheit einer Stadt, auch Zeichensetzungen – der Mächtigen wie auch der Bürger. Als gebaute Objekte sind sie Zeitzeugen des Erinnerns an vergangene Zeit. Sie sind emotionale Ankerpunkte im Stadtgrundriss, Brunnenplätze sind Orte des städtischen Miteinanders – und zwar des tatsächlichen, nicht nur des verordneten oder herbeigeredeten Miteinanders.

Brunnen sind natürlich noch viel mehr: das Spiel des Wassers erfreut und erfrischt. Und gibt es etwas Schöneres, als am Brunnen zu sitzen und zu entspannen? Oder Kindern beim Toben im Wasser zuzusehen? Wasser spricht alle Sinne an und wie kaum ein anderes Stadtelement erzeugen Brunnen kleine glückliche Momente im hektischen Alltag.

Das ist der Grund, warum sich Menschen empören, wenn Brunnen nicht funktionieren oder stillgelegt werden. Das ist der Grund, warum sich Menschen einsetzen für Erhalt, Pflege und Sanierung vorhandener oder auch den Bau neuer Brunnen.

Beispiele gibt es reichlich: z.B. Die Europäische Brunnengesellschaft in Karlsruhe. Beharrlich holt sie vergessene Brunnen und ihre Geschichten ans Licht der Öffentlichkeit, saniert Brunnen und organisiert Ausstellungen. In Stuttgart gibt es die Stiftung Stuttgarter Brünnele. In einigen Städten gibt es Patenschaften. Magdeburg hat vor einigen Jahren ein Brunnensponsoring ins Leben gerufen. Abgesehen von einigen wenigen Hauptbrunnen laufen die Wasserspiele nur, wenn sich Sponsoren für den Betrieb finden. Dieses Jahr kamen 40.000 Euro zusammen. Auch ich sponsere dort für den Betrieb eines Brunnens, zusammen mit meiner Schwester und ihren Nachbarn finanzieren wir den historischen Brunnen im Möllenvogteigarten im Domviertel. Man kann das auch durchaus kritisch sehen. Brunnen sind schließlich eine städtische Aufgabe, so wie Rasen mähen, Mülleimer leeren, Spielplätze pflegen. Doch ich spende nicht, weil die Stadt diese Aufgabe nicht übernehmen könnte. Eine Stadt, die das Geld für ihre Brunnen nicht aufbringen kann, kann ohnehin alles andere auch vergessen. Ich spende, weil ich dankbar bin, weil es meine Geburtsstadt ist und ich mich so verbunden fühle. Ich spende, weil ich so etwas zurückgeben kann von dem, was mir die Stadt gegeben hat. Ganz in Anlehnung an Pippi Langstrumpf: Warte nicht darauf, dass die Menschen dich anlächeln. Zeige Ihnen, wie es geht! –Warte nicht drauf, dass die Stadt etwas für dich tut, sondern tue selbst etwas. Denn Brunnen sind offensichtlich ein Stück Heimat.

Vor kurzem habe ich ein interessantes Beispiel in Pirna entdeckt. Bei Bauarbeiten wurde 2016 ein Wasserspeicher aus dem 13. Jahrhundert freigelegt. Die Stadtverwaltung schuf Tatsachen ließ ihn verfüllen. Dabei gibt es eine Initiative (Pirnaer Brunnen), die über 10.000 Euro Spenden gesammelt hat, um den Schacht sichtbar und erlebbar zu machen. Es folgte eine nun schon 2 Jahre währende kommunalpolitische Diskussion, immer noch nicht abgeschlossen, die vor allem eines zeigt: das Thema ist emotional besetzt und sollte von den Städten und ihren Administrationen nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

Eine Stadtplanung und Stadtpolitik, die ihre Brunnen vergisst, macht etwas falsch. Das sage ich nicht, weil Brunnen mein Spezialthema sind. Das sage ich, weil es eben nicht nur um das Bauen von immer neuen, wie auch immer gestalteten Wohnhäusern geht oder um Straßen, Schulen, Kindergärten, Gewerbegebiete, sondern auch um das Erzeugen von unverwechselbarer Stadtidentität, also um Heimat. Das geht nur über ein Stadtbild, welches Abwechslung bietet und individuell ist, über einen Stadtgrundriss, der im Maßstab angepasst ist und der Menschen verbindet und zusammenführt. Das geht nur über eine Stadt, die auf der emotionalen Ebene positiv anspricht.

Brunnen und ihre Plätze stehen für dieses Positive: in ihnen mischen sich Baukunst und emotionales Erleben, Politik und Gemeinschaft, Ästhetik, Tradition und soziales Miteinander – und das schafft Heimat. Manchmal wird das, wie beim Listplatzbrunnen in Reutlingen, erst klar, wenn etwas nicht mehr da ist. Denn was Heimat wirklich bedeutet, erfährt man vor allem im Verlust.

Nachtrag

Letztes Jahr wollte ich eine Initiative für die Reaktivierung des Listbrunnens gründen und habe Mitstreiterinnen und Mitstreiter gesucht. Das hat ziemlich Wellen geschlagen: die Reaktionen auf FB reichten von Begeisterung und „JA, ICH BIN DABEI“ bis hin zu „WOFÜR EIGENTLICH BÜRGERENGAGEMENT,WENN DIE STADT DAS GELD AN ANDERER STELLE ZUM FENSTER RAUSWIRFT“ oder „DIE BEI DER STADT SOLLEN ERST EINMAL IHRE HAUSAUFGABEN MACHEN; DANN ENGAGIEREN WIR BÜRGER UNS VIELLEICHT AUCH“. Interessant auch die Reaktionen einiger Stadträte, die erhebliche Vorbehalte hatten nach dem Motto: Bürgerengagement ja, aber bitte in geregelten, kontrollierten Bahnen.

So wird das natürlich irgendwie nichts mit dem Brunnen, stetig sind nur die Klagelieder regelmäßig in den Posts. Es bleibt festzuhalten: Eine Stadt hat die Brunnen, die sie verdient.

 

Verweise

Bildertanz Reutlingen: rv-bildertanz.blogspot.com/

Süddeutsche Zeitung vom 02.01.2018 http://www.sueddeutsche.de/kultur/sz-serie-was-ist-heimat-ein-gutes-gefuehl-1.3802786)

Pirnaer Brunnen: https://www.facebook.com/PirnaerBrunnen/

Stiftung Stuttgarter Brunnen: www.stiftung-stuttgarter-bruennele.de/

Europäische Brunnengesellschaft Karlsruhe: www.brunnengesellschaft.de/

Der Traum von lebenswerter Stadt … und warum unsere Städte doch meist immer gleich aussehen

Regelmäßig werde ich zu Vorträgen und Diskussionen über Stadtgestaltung eingeladen, gern mit dem Schwerpunkt auf Planung für Kinder und Jugendliche. Ich erzähle über Strategien und Konzepte und zeige launige Bilder von realisierten kinder- und jugendfreundlichen Stadträumen. (so hat es beispielsweise in Reutlingen davon mittlerweile einige und es freut mich jedes Mal, wenn ich sehe, wie intensiv die genutzt werden.) Ich spreche über die Gründe für erfolgreiche Projektentwicklung und lebenswerte Stadtgestaltung. Und ich mache das gern, die Diskussionen sind meistens interessant. Schließlich wünschen sich – nahezu alle Menschen – Planende udn Entscheider in freien Büros in den Stadtverwaltungen, Gemeinderäte, Bürgerinnen und Bürger – qualitätsvolle Stadtgestaltung.

Meist ist das Erstaunen groß, was alles in einer Stadt möglich ist, wenn man die Bedürfnisse der Menschen konsequent berücksichtigt, anstatt nur davon zu reden. Denn tatsächlich wird in Planungsprozessen immer noch zu wenig über die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer diskutiert, trotz aller Partizipation, obwohl das kaum jemand zugeben wird. Stattdessen reden über Funktionen, Sichtachsen, über übergreifende Gestaltungsziele und gestalterische Details, auf die es meist überhaupt nicht ankommt. All das wird aber verpackt in intellektuell hochtrabende Worthülsen, zum Beispiel von der Stadt der kurzen Wege, obwohl es keine Kneipe im Quartier gibt, die nächste Einkaufmöglichkeit der Supermarkt am Stadtrand ist, der öffentliche Freiraum nicht zum Aufenthalt einlädt, sich die Kinder auf dem Weg zum Spielplatz zwischen einer Armada parkender Autos durchschlängeln müssen, es zwar Gehwege gibt, diese aber nicht zum Gehen einladen.

Die Stadt der kurzen Wege scheint immer noch zu bedeuten, dass der Weg zwischen Wohnung und parkendem Auto möglichst kurz ist. Und überhaupt … wird diese Worthülse vor allem dort benutzt, wo die Stadt alles andere als menschenfreundlich ist.

Worüber reden wir in der Planung? Keine Frage, gute Gestaltung ist wichtig. Und doch verlieren wir uns häufig im Kleinklein der Gestaltung, dass wir dann mit den beschriebenen Worthülsen umschreiben, damit das Kleinklein nicht so auffällt. Wir diskutieren über die richtigen Steinformate, die Farbe von Steinen, das Aussehen von Bänken (als wäre nicht auch wichtig, wie sich auf ihnen sitzen lässt), über die die Art und Qualität von Bäumen, über die finale Barrierefreiheit, und, und, und.

Und dann reden wir offenbar leidenschaftlich gern über  nicht beachtete oder vermeintlich nicht beachtete Sicherheit, über Risse im Beton, über riskante Absturzhöhen von Kinderspielgeräten oder fehlende Wasserqualität von Brunnen, die am besten Trinkwasserqualität haben sollten, damit der letzte Sicherheitsfanatiker befriedigt ist, auch wenn das kompletter Unsinn ist. Nicht selten passiert all das nach dem Motto: wer am lautesten schreit hat Recht, befeuert auch von der örtlichen Presse, immer auf der Suche nach dem ultimativen Fehler der Planenden oder der Verwaltungen. Bei diesen Diskussionen zeigt sich ein weiteres Phänomen: das Phänomen des Schlechtredens und der Suche nach dem Haar in der Suppe.

Deutschland: Land der Nörgler und Meckerer. Deutschland: Land der immerwährenden Suche nach den Schuldigen. Deutschland: Land der Besserwisser. Deutschland: Land der ewig Unzufriedenen. (Anmerkung. Deutschland lässt sich hier durch beliebige Ortsnamen austauschen)

Und wenn mal etwas gelingt im Stadtraum … selbst dann finden sich die Meckerer und Nörgler: zu voll, zu steinern, zu wenig integriert, zu wenig Schatten, zu wenig Bäume oder zu viel Bäume, zu schnell kaputt oder abgenutzt, zu dreckig, die übersteigerte Sorge, dass das Wasser im Wasserspiel zu dreckig sei und die gefährliche Straße zu nah dran … oder … das Ganze einfach nicht schön. Denn in unserer neoliberalen Welt mit seinem Fokus auf absoluter individueller Selbstverwirklichung muss Stadtgestaltung immer auch JEDEM gefallen. So wird erbittert über Gestaltung, Wasserqualität oder schlecht wachsende Bäume diskutiert, über Kleinkinder auf Skateplätzen, über die Notwendigkeit von Zäunen, damit Bälle nicht auf die Straße rollen und was immer da noch in den Sinn kommen mag.

Viel zu wenig diskutieren wir über die tatsächlichen Bedürfnisse von Menschen, von Kindern und Jugendlichen. Über das, was wir als Erwachsene dafür tun können, damit Kinder und Jugendliche frei und bewegt aufwachsen können. Über das, was wir tun können, damit wir uns selbst wohlfühlen. Über das, was wir tun können, um Stadträume mit Anreizen für den Aufenthalt zu schaffen. Über das, was wir tun können, um gesichtslose, immer gleiche Stadträume zu vermeiden, frei von jeglichen Möglichkeiten für Aneignung. Diese gesichtslosen Stadträume entstehen übrigens auch deshalb, weil ängstliche Entscheider und Entscheiderinnen jegliche Fehler vermeiden und es allen Recht machen wollen (dabei ist doch bekannt, dass diese Kunst noch niemandem wirklich gelang) oder weil sie auch noch dem letzten in der Stadt ihren mittelmäßigen, von aller Kreativität freien und langweiligen persönlichen Gestaltungsgeschmack aufoktroyieren wollen.

Also: Erinnern wir uns häufiger an unsere eigene Kindheit und seien wir nicht so brav und langweilig. Erinnern wir uns daran, wie wir uns im Urlaub im Süden wohlfühlen, wo es nicht so geleckt ist wie bei uns. Seien wir großzügig, diskutieren über das Mögliche und versuchen das Unmögliche. Und freuen wir uns, dass wir das alles dürfen.

Warum ich einen Blog schreibe

In meinem Berufsleben schreibe ich viel: Mails und Briefe, Projektanträge, Vorlagen für den Gemeinderat, Fachartikel, meine Dissertation. Manchmal lange Texte, manchmal kurze. Vor einigen Jahren habe ich Facebook für mich entdeckt. Und bei aller berechtigten Kritik an diesem Medium kommt es ja darauf an, was man damit macht. Facebook ist, zumindest für mich, eine wunderbare Möglichkeit für Fotos, Kommentare und den Diskurs.

Meine Themen? Stadt- und Freiraumplanung, Radfahren und Zu Fuß Gehen, Parks und Gärten, Häuser und das ZWISCHEN DEN HÄUSERN, Natur und Landschaft, Garten, Brunnen und Wasserspiele.

Warum? Es ist mein Beruf, aber es ist noch mehr. Ich laufe gern durch Stadt und Dorf, komme viel herum, beobachte gern – und ich diskutiere gern über das, was ich sehe, was mich bewegt, worüber ich mich ärgere oder freue.

Noch etwas kommt dazu.

Ich lebe auf dem Land – genauer gesagt im ländlichen Raum Baden-Württembergs in einem Dorf mit mehreren Ortsteilen und einigen schönen Fachwerkhäusern, mit schlechter ÖPNV-Anbindung, eher schrumpfender Bevölkerung und dennoch mehreren Neubaugebieten für viele neue Einfamilienhäuser. Ich lebe in einem Dorf mit drum herum Intensivlandwirtschaft und zum Glück noch einigen Streuobstwiesen, einem Biobauern und einigen Hofläden, mit kleinen Bächen, Baggerseen mit klarem Wasser und dem wundervollen Rhein. Ich mag die Nachbarschaft des Dorfes mit dem Gespräch über den Gartenzaun, die vollen Körbe mit Obst, die weitergegeben werden, wenn es für die einen zu viel wird. Wie vielerorts im ländlichen Raum ist es selbstverständlich, überall hin mit dem Auto zu fahren – und wenn es nur 100 Meter entfernt ist – obwohl es ein passables Radwegenetz gibt. Ich lebe in einem Dorf, in dem man Mitglied in einem Verein sein sollte, man sich als Bürger oder Bürgerin ansonsten aber kaum einbringen kann, was vielen offenbar egal ist. Mein Dorf und die Gegend drum herum sind lebenswert, aber nicht weil politisch sonderlich viel dafür getan wird (abgesehen von einigen wenigen Unermüdlichen), sondern weil es hier schon immer schön war. Gleichzeitig verändert sich das Land immer mehr, was am deutlichsten daran sichtbar wird, dass es für Insekten, Igel, Hasen und viele Vogelarten immer schwieriger wird zu überleben.

Ich lebe auch in der Stadt – genauer gesagt an drei Tagen in der Woche in einer Universitätsstadt in Baden-Württemberg. Diese Stadt hat eine hohe Geburtenrate und wächst gerade stark, weshalb Wohnungsmangel herrscht. Die Stadt hat einen hohen Anteil an Menschen mit Hochschulabschluss und scheinbar reden alle überall mit. Es ist eine Stadt, in der intensiv um politische Entscheidungen gerungen wird und eine Stadt, die den Umbau zur lebenswerten Stadt vor vielen Jahren begonnen hat. Der Anteil im Umweltverbund (Rad, Fuß, ÖPNV) liegt bei 76 % (Binnenverkehr). Diese Stadt ist so, wie ich mir eine lebenswerte Stadt wünsche: mit lebendigen und individuellen Stadtquartieren, einer wundervollen Altstadt und mit vielen Menschen auf der Straße, die dich anschauen und dich wahrnehmen, wenn du Ihnen begegnest.

Das eine wie das andere hat natürlich mit der örtliche Lage zu tun (Stadt/Dorf), es hat mit Stadtplanung zu tun und mit dem Verständnis für Grün und Freiräume, vor allem aber hat es mit Politik zu tun, mit der großen in Bund und Land und mit der Kommunalpolitik. In meinen beiden Wohnorten könnte dies kaum unterschiedlicher sein. Mein Dorf hat einen Bürgermeister, der sehr jung ist (von nicht wenigen Menschen wurde er gerade deswegen gewählt), den man kaum im Ort trifft, dessen Ideen für die Entwicklung des Dorfes nicht erkennbar sind (falls er welche hat), der offenbar nicht gern mit seinen Bürgern diskutiert und der die 2 km Arbeitsweg zum Rathaus jeden Tag mit seinem großen, wichtigen Auto fährt. Die Stadt hat einen Oberbürgermeister, der zu vielem etwas zu sagen hat, der die Diskussion mit seinen Bürgerinnen und Bürgern sucht, der beharrlich den ökologischen und sozialen Umbau seiner Stadt vorantreibt und der mit seinem E-Bike fröhlich von Termin zu Termin radelt.

Das ist der Spannungsbogen, in dem sich für mich Stadt- und Freiraumplanung bewegt. Und so habe ich zwei Labore – ein Stadtlabor und ein Dorflabor und freue mich, dass mir beide so viele Anregungen bieten. Und das muss man doch teilen, oder?