Früher war alles besser? Über den Verlust des historischen Ortsbildes am Beispiel des Dorfes Muckenschopf
Ich bin neulich über Fotos gestolpert, die mich nachhaltig irritiert haben, so sehr, dass ich Euch an meinen Gedanken zu diesen Fotos gern teilhaben lassen möchte. Es geht um das Dorf Muckenschopf, die 750- Jahrfeier und eine eigentlich schöne Idee.
Ihr fragt Euch vielleicht, wo Muckenschopf liegt? Der Ort befindet sich 1 km südlich von Scherzheim und ist sozusagen mein Nachbardorf. Ganz korrekt für die Einordnung ist Muckenschopf (wie Scherzheim auch) einer von von 5 Ortsteilen der Stadt Lichtenau am südlichen Ende des Landkreises Rastatt in Baden-Württemberg. Wobei Stadt definitiv zu viel verspricht. Lichtenau ist eine dörfliche Kommune im ländlichen Raum, die aus irgendeinem heute nicht mehr nachvollziehbaren Grund Stadtrechte hat.
400 Menschen leben in Muckenschopf , dass so klein ist, dass es nicht mal eine Kirche hat, nur eine Glocke auf dem Rathaus. Im Ortsnamen finden sich Mücken bzw. Schnaken und Schöpfe bzw. Scheunen. Das ist kein Zufall. Muckenschopf liegt in der Nähe des Rheins und in den feuchten Wiesen gibt es seit je her sommerliche Mückenplagen. Dort, wo heute Muckenschopf steht, war früher Weideland. Der Überlieferung nach wurde das Weidevieh durch Mücken und Fliegen – auch „Mucken“ genannt – im Sommer so sehr belästigt, dass beschlossen wurde, zum Schutz gegen die Mücken einen großen Schopf zu errichten. Diesem ersten Schopf folgte ein zweiter Schopf, aus den Schöpfen wurden Höfe, aus den Höfen eine Siedlung. So entstand das Dorf Muckenschopf, dass 1273 erstmals urkundlich erwähnt wurde.
Muckenschopf ist ein idyllisches Dorf mit vielen Fachwerkhäusern und großen Scheunen, auch wenn in den letzten Jahren immer mehr alte Häuser und Scheunen abgerissen oder grundhaft verändert wurden. Hier findet wie vielerorts ein schleichender Prozess des Wandels statt, der nicht nur etwas mit den Häusern und Scheunen zu tun hat, sondern vor allem mit der Struktur des Ortes. Mit Struktur ist gemeint: Ausrichtung und Größe der Gebäude, Nutzung der Gebäude, Art der Dächer, Art und Gestaltung der Höfe und Vorgärten, der Zäune, Tore, Fenster und Türen. Dazu gleich noch mehr.
Muckenschopf hat eine aktive Dorfgemeinschaft, auf die ich aus dem schönen, aber etwas behäbigem Scherzheim fast etwas neidisch schaue. Es gibt ein Dorfgemeinschaftshaus und viele Aktivitäten übers Jahr. Mir gefallen die Inselhühner am besten, eine Gruppe von Frauen, die die Verkehrsinseln an der Landesstraße bepflanzt haben und pflegen. Beim Landeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ 2022 wurde Muckenschopf mit einer Silbermedaille ausgezeichnet, was insofern bemerkenswert ist, da Muckenschopf zum ersten Mal teilgenommen hat und als kleiner Ort mit überschaubarer Unterstützung durch Bürgermeister und Stadtverwaltung eigentlich nur geringe Chancen auf Erfolg hatte.
2023 war und ist das Jahr der 750 Jahrfeier. Ein großartiges Fest, über das ganze Jahr hinweg, mit Veranstaltungen wie der 100 m langen Kaffeetafel und einem schön geschmückten Dorf. Viele Eigentümerinnen und Eigentümer suchten in ihren Scheunen und Garagen alte Gerätschaften und stellten sie in ihre Vorgärten. Eine Erinnerung daran, was Landleben und Landwirtschaft früher bedeuteten und irgendwie auch passend zum nostalgisch geprägten Zeitgeist, der unser aufgeräumtes, sauberes und kunststoffaffines Leben mit ein paar alten Stücken garniert, die ansonsten auf dem Schopf vor sich hinstauben. Vor den Häusern und Höfen waren große Holzrahmen mit wetterfesten Bannern montiert. Darauf Ansichten der Häuser und Höfe aus der Zeit zwischen Ende des 19. Jahrhundert und Mitte des 20. Jahrhunderts, einer Zeit also vor 70 bis 130 Jahren. Die Fotos zeugen von Wohlstand, aber auch Armut ihrer Bewohner:innen. Neben windschiefen Häusern prachtvolles, zweigeschossiges Fachwerk und „Neubauten“ aus dem frühen 20. Jahrhundert, vor dem Eingang die Bewohnerinnen und Bewohner. Dazu vor einem Haus ein Luftbild des Dorfes von 1928, auf dem die Struktur der Höfe mit Gärten, Streuobstwiesen und angrenzenden Äckern deutlich ablesbar ist.
Beim Vorbeifahren mit dem Fahrrad kann man die Rahmen mit den Fotos nicht übersehen. Die Fotos sind ein spannendes Zeugnis einer Vergangenheit, die noch gar nicht so lange her ist. Gleich war allen Häusern, dass die Höfe nicht versiegelt waren, dass es Hofbäume und bepflanzte Vorgärten, ein Wohngebäude und ein Ökonomiegebäude mit Scheune und Stall gab. Deutlich erkennbar ist auch, dass es schon immer Veränderungen an den Höfen gab. Fachwerkfassaden wurden verputzt und Fensteröffnungen verändert.
So weit so gut. Baugeschichte zeugt immer vom Wandel. Woher rührt also meine Irritation? Sollte ich nicht erfreut sein, dass die Dorfgemeinschaft diese schöne Aktion der Erlebbarkeit der Dorfgeschichte auf die Beine gestellt hat? Ja. Unbedingt. Denn die Fotos erzählen viel mehr als nur den Wandel der Gebäude.
Die Fotos vom Früher und ihr Vergleich mit der heutigen Situation zeigen, dass manche Höfe sich äußerlich kaum verändert haben (innen sicher). Struktur und Gestaltung blieben erhalten – unabhängig davon, ob die Wohnbebäude erneuert wurden oder nicht. Egal, welche Veränderungen vorgenommen wurden, blieb die Maßstäblichkeit erhalten und Änderungen fügten sich in das Gesamtbild von Hof und Dorf passend ein.
Andere Höfe wurden deutlich verändert: Ökonomiegebäude wurden zum Wohnen umgenutzt, Etagen aufgestockt, Dachneigungen verändert, Wintergärten angebaut, neue Zugangstüren ergänzt, Fensteröffnungen verändert und die kleinteiligen Fenster durch Einscheibenverglasungen ersetzt, Garagen für die zunehmende Zahl der Autos ergänzt, Hofbäume gefällt, Holzzäune durch Mauern oder Gitter ersetzt und Höfe komplett gepflastert. Und als wäre all das nicht genug, wurden wenig passende Balkone an die Fassaden geklebt, die auch noch außer Acht lassen, dass Balkone ein typisch städtisches Element sind. Sie entstehen dort, wo es keinen Platz und kein Grundstück gibt. Sogar ein Fachwerkhaus, welches an die Bebauung in den Schweizer Alpen erinnert, habe ich entdeckt. Grundstücke und die Gebäude darauf wurden bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Natürlich darf vorausgesetzt werden, dass jeder Umbau einem Plan der Bewohnenden folgte und folgt, um Nutzung und Komfort im Inneren zu verbessern, Strom, Bad und Heizung sind heute Standard. Auch gibt es heute kaum noch Landwirtschaft, gearbeitet wird auswärts, nicht zuletzt in den großen Firmen im nahen Bühl. Viele der Scheunen werden nicht mehr gebraucht und eine Umnutzung ist deshalb eine grundsätzlich gute Idee. Dennoch ist über den vielen Umbauten das Gesicht einiger Höfe komplett verloren gegangen.
Angesichts der Fotos wurde der ansonsten schleichende Prozess der Veränderung mit einem Mal wie im Zeitraffer sichtbar. Die Veränderungen sollten uns sorgen, denn wenn noch mehr Häuser ohne Rücksicht auf das Bild des Dorfes umgebaut werden (angesichts des demografischen Wandels und des Alters vieler Bewohnenden steht das zu befürchten), droht das Gesicht des Dorfes verloren zu gehen. Das, was seine Besonderheit, seine Unverwechselbarkeit seine Einzigartigkeit ausmacht. Und deshalb hoffe ich, dass Muckenschopf dieses Jahr nicht nur die letzten 750 Jahre gefeiert hat, sondern auch eine Zukunftsvision entwickelt oder zumidest eine Idee bekommen hat, dass neben der Veränderung das Bewahren wichtig ist.
(Muckenschopf steht exemplarisch für viele Dörfer.)