Das steinerne Dorf

Wenn wir über Klimawandel diskutieren, geht es schnell darum, was jeder/jede tun muss. Wir diskutieren über Plastiktüten, Plastikhalme, Flugscham, Weihnachtsbäume, über Verbote und Freiheit, die es offenbar ausschließlich auf deutschen Straßen auszuleben gilt. Nicht selten erbitterte und mit Rechthaberbesserwisserduktus geführte Diskussionen, die Vorbehalte schüren und wenig zielführend sind. Immerwährender Beweis, dass es keine besseren Besserwisser als uns Deutsche gibt.

Ich beschäftige mich seit langem mit Stadtgrün und Wasser in der Stadt. Beide Themen haben viel mit dem Klimawandel zu tun. Nur logisch, dass ich dazu letztes Jahr mehrere Vorträge gehalten und Artikel geschrieben habe, u.a. einen über Entsiegelung und Begrünung als Beitrag zur Klimaanpassung (Stadt+Grün 8/2019).

Siedlungen sind von den Auswirkungen des Klimawandels besonders betroffen. Durch die starken Versiegelungsgrade sind Oberflächen- und Lufttemperaturen höher als im Umland. Das führt zu Temperaturen, die tagsüber längeren Aufenthalt im Freien nahezu unmöglich machen, und nachts wirkungsvolle Abkühlung verhindern, da Beton und Asphalt ihre tagsüber gespeicherte Wärme abgeben. Diese Effekte werden in den nächsten Jahren zunehmen. Denn ein großer Anteil der Freiräume ist heute versiegelt – Straßen, Wege, Plätze und Stellplätze. Auch die privaten Freiräume sind stark versiegelt. Hierin liegt einer der Hauptgründe für die Entstehung urbaner Hitzeinseln mit gefühlten Lufttemperaturen von deutlich über 40 Grad und Oberflächentemperaturen um die 70 Grad.

Zum Reigen möglicher Klimaanpassungsmaßnahmen gehören deshalb schon lange Entsiegelung und Begrünung. Beides einfach zu realisieren. Beides nutzt nicht nur dem Klima, sondern auch der Biodiversität oder einfach ausgedrückt, den Insekten und Vögeln. Schaut man sich allerdings um, entsteht der Eindruck, als nähme Versiegelung ungebremst zu. Die Zahl der PKW steigt, damit der Anteil versiegelter Stellplätze. Viele private Grundstücke werden komplett gepflastert oder erhalten großflächige Steinschüttungen. Auf Bepflanzung wird verzichtet, denn Blüten und Laub sind vor allem Dreck. Auch noch der letzte Weg wird asphaltiert, damit die Schuhe nicht verschmutzen. Fassadenbepflanzungen könnten die strahlend weißen Hauswände verschmutzen und machen Arbeit, genau wie Blumenbeete. Die wollen viele Hausbesitzer nicht mehr haben. Die vielgeschmähten Schottergärten sind deshalb deutlichstes Zeichen für unser beschränktes Verständnis zum Freiraum. Alles muss praktisch sein. Neulich habe ich einen Schottergarten entdeckt, der inmitten der Schotterfläche ein Vogelhäuschen beherbergte. Besser lässt sich der Irrsinn nicht ausdrücken. Dabei zeugt das Beispiel durchaus von Gestaltungswillen und möglicherweise einem kleinen Rest an Wissen, dass Gärten etwas mit Natur und die wiederum mit Insekten und Vögeln zu tun haben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Wer meint, dass dies alles nur die Stadt betrifft, irrt. Dörfer sind ebenso stark versiegelt. Praktisch und komplett gepflasterte Hofeinfahrten, Schottergärten, konsequente Unkrautbekämpfung mit Roundup und wenn Rasen, dann möglichst kurz und auf gar keinen Fall mit Löwenzahn oder Gänseblümchen.

Dabei wäre es einfach. Es gibt gute Beispiele, gute Initiativen und einfache Möglichkeiten zum Tun. Wichtig wäre aber, dass – jenseits politischer Lippenbekenntnisse zum sogenannten Klimanotstand, der in den letzten Monaten mancherorts ausgerufen wurde, oder einem zum Fremdschämen perfekt geeigneten Statement der Umweltministerin Svenja Schulze, dass es „beim Klimaschutz nicht nur um Gletscher und Eisbären geht“ – endlich messbare Maßnahmen  ergriffen werden. Dafür braucht es politische und planerische Rahmenbedingungen, Anreize, Vorbilder, Gebote und Verbote (JA, auch Verbote). Dafür braucht es eine ernsthafte Auseinandersetzung darüber, was jeder/jede Einzelne tun kann oder eben nicht tut. Darüber müssen wir reden. Jetzt. Und dann tun.

Anmerkung: Die Fotos in diesem Beitrag entstanden in meiner Nachbarschaft und umliegenden Dörfern. Sie stehen beispielhaft für das, was schief läuft und das, was sich machen lässt. Ich habe übrigens letztes Jahr für meinen Vorgarten einen Preis beim Vorgartenwettbewerb erhalten, ausgelobt von den Verbänden Wohneigentum Baden-Württemberg e.V. und Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau Baden-Württemberg. Weit über 1.000 Einsendungen gab es. Der Vorgartenwettbewerb ist eines der Beispiele, was sich machen lässt und hoffentlich findet er viele Nachahmer und Nachahmerinnen.

Vorgarten in Schotteroptik

praktisch gestaltete Hofeinfahrt

baumloser, komplett versiegelter Supermarktparkplatz

begrünte Garagenzufahrt

gekieste und begrünte Hofeinfahrt

entsiegelte und begrünte Straßeneinmündung

blühende Mauer

Pflanzfläche 1

Pflanzfläche 2

Schottergarten mit Vogelhäuschen

Vorgarten und Fassadenbepflanzung

begrünter Hof

Vorgarten

Vorgarten

Vorgarten

Automobiler Schwarzwald – oder – Denken über Alternativen

Wenn in den Niederungen am Oberrhein im Winter der Nebel drückt und es gar nicht hell werden will, dann versprechen die Höhen des Schwarzwaldes Erlösung. Vor allem bei Inversionswetter durchschneiden ihre Wipfel die Dunstbänke und liegen im Sonnenlicht. Über ein Wattemeer reicht der Blick bis hinüber in die Vogesen. Manchmal lugen noch die Spitzen der Kirchtürme wie Masten versunkener Schiffe hervor. An solchen Tagen locken die Höhen besonders. Das klingt wildromantisch, doch mit dem Hinaufkommen ist es so eine Sache. Der Schwarzwald ist ein Eldorado motorisierter Mobilisten und eines in die Jahre gekommenen Massentourismus. Breite Straßenschneisen und bequeme Spazierwege, beliebige Eventgastronomie mit gigantischen Parkplatzanlagen vor brutal geschneisten Skihängen, die dennoch in ihrer Kürze kaum Herausforderungen bieten, dazu lärmgeplagte Ortschaften entlang der Zufahrtsstraßen, deren abgasverrußte Fassaden nur erahnen lassen, dass es sich um malerische Erholungsorte handelt.

Natürlich ist der Schwarzwald ein Natur- und Wanderparadies mit wundervollen Wegen und Steigen und einladenden Ausflugszielen. Ein Beispiel dafür ist die Hornisgrinde, höchster Gipfel des Nordschwarzwaldes, mit seinen Aussichtstürmen, dem Hochmoor und der Wanderhütte. Lange Jahre war das gastronomische Angebot auf der Hornisgrinde von eher provisorischem Charakter. Seit Dezember 2018 begrüßt die neue Grindehütte Wanderer und Ausflügler. 2,5 Millionen Euro investierte die Waldgenossenschaft Seebach in anspruchsvolle Architektur und will an die vormilitärischen Zeiten am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts anknüpfen, als Hornisgrinde und Mummelsee das beliebteste Ausflugs- und Urlaubsziel der Region waren. Das nur auf den ersten Blick schlichte Bauwerk mit einer Natursteinfassade verbindet zeitlose Moderne mit Schwarzwaldtradition. Mit seiner offenen Galerie, den großen Panoramafenstern und dem Kaminofen in der Mitte des Gastraums bietet die Hütte großartige Ausblicke und ist dennoch überraschend gemütlich. Das Wanderherz freut sich ob der neuen Möglichkeit zur Einkehr – weit ab vielbefahrener Straßen und massentouristischer Angebote.

Grindehütte, Foto: Katrin Korth

Wer zu Fuß oder mit dem Mountainbike an der Hütte ankommt, reibt sich möglicherweise dennoch verwundert die Augen. Neben der Hütte befindet sich seit neuestem ein öffentlicher Parkplatz, mit Platz für 50 Autos. „Zufahrt für Gäste und Besucher frei.“ Von dieser werbenden Botschaft fühlen sich nicht wenige Menschen eingeladen, den Ausflug auf den Gipfel gleich ganz mit dem Auto zu machen, anstatt einen der Parkplätze an der Schwarzwaldhochstraße anzusteuern. Die Folge ist ein ausgesprochen reger und zügiger Autoverkehr auf dem Zufahrtsweg und in der Folge regelmäßig unschöne Szenen zwischen Wandernden und Automobilisten. Kampfgebiet Hornisgrinde. Eine intelligente Schranke soll noch installiert werden, die anzeigen soll, ob noch Parkplätze frei sind. Allerdings erst im nächsten Sommer. Man will Chaos vermeiden und es lieber richtig machen, so der Bürgermeister von Seebach, auf dessen Gemarkung die Grindehütte liegt. Ohnehin beruft sich die Gemeinde vorrangig auf das Teilhabegesetz: auch mobilitätseingeschränkte Menschen sollen die Hütte besuchen können. Bis zum Sommer nimmt man also lieber das Chaos und den Ärger der Wandernden in Kauf. Zweifelsohne, es ist eine Gratwanderung in der Abwägung der Interessen. Schließlich können Betreiber der Wanderhütte nicht nur von den Wandernden leben und haben deshalb die Parkplätze beantragt. Und doch bleibt ein schales Gefühl. Freie Fahrt für freie Bürger – hinauf auf den letzten Gipfel. Ein Schelm, der da was Böses denkt.

50 Stellplätze an der Grindehütte, Foto: Katrin Korth

In den sozialen Medien sind die Meinungen gespalten. Es reicht von „Warum nicht auch denjenigen die Chance geben, mal auf die Hornisgrinde zu gehen, denen es zu Fuß nicht möglich ist?“ über „Autos haben im Wald nichts verloren. Wer hoch will soll das Rad nehmen oder zu Fuß gehen. Für den Rest fährt ein Bus. Das ist Natur und kein verdammter Rummelplatz.“ Dazwischen Beiträge die sich über die Unzuverlässigkeit und Unbequemlichkeit der Busse beschweren.

Womit sich der Kreis schließt. Wie viel und welchen Tourismus will der Schwarzwald? Heißt Teilhabe wirklich, dass jeder Ort, jeder Gipfel, jede Höhe erreicht werden können muss, notfalls mit dem Auto? Bekommen jetzt auch alle Aussichtstürme auf der Hornisgrinde Aufzüge? Der Teilhabe wegen? Oder geht es nicht vielmehr vor allem um unsere eigene Bequemlichkeit. Denn tatsächlich gibt es einen Ausflugsbus nach oben. Doch die Busse sind eben nicht wirklich bequem, das Angebot nur bedingt bekannt, man muss sich nach den Abfahrtszeiten richten. Und schließlich: Busfahren ist irgendwie so gewöhnlich, so wenig hipp, trotz aller Verheißungen neuer Mobilität und digitalisierter Welt mit modernen Apps für Fahrpläne und Tickets. So kommen die meisten Menschen mit dem Auto, zumal es ausreichend Parkplätze gibt, die in den letzten Jahren immer mehr erweitert wurden. Zuletzt wurden 124 neue Parkplätze am Mummelsee errichtet. Schlappe 3.100 qm Fläche gingen dafür darauf. Auch das neue Nationalparkzentrum wird mit einer opulenten Parkplatzanlage ausgestattet. Entlang der gesamten Schwarzwaldhochstraße und ihren Zufahrten reiht sich ein Band von Parkplätzen. Dazu kommt, dass die Schwarzwaldhochstraße beliebtes Fahrgebiet der Motorradmobilisten ist, von denen nur einige angepasst fahren. Kreuze säumen die Rennstrecken. Hat man Ärzte im Bekanntenkreis, weiß man, dass diese irgendwann das Gebiet in ihrer Freizeit meiden, um nicht im Wochentakt bis zur Unkenntlichkeit entstellte, verunglückte Fahrer von der Straße zu kratzen.

Die Verkehrsüberlegungen von Nationalpark und Naturpark setzen auf ÖPNV. Gleichzeitig werden immer mehr große Parkplätze gebaut. Das klingt nach „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Und so ist der Schwarzwald immer noch vor allem auto- und motoradmobil. Die verstreuten, eigentlich idyllisch gelegenen, kleinen Erholungsorte bleiben weiter Zufahrten. Ohne nennenswertes Gewerbe ist es für sie schwer, wirtschaftlichen Aufschwung zu generieren, zumal dem Schwarzwald immer noch etwas Beschauliches und Antiquiertes anhaftet. Auch die Hoffnung auf Aufschwung durch Wintersport wird sich im fortschreitenden Klimawandel nicht erfüllen, da helfen selbst noch mehr Schneekanonen nicht.

Neulich berichtete die Lokalzeitung wieder von der Idee, die Höhen über eine Seilbahn zu erschließen. Abwegig auf den ersten Blick. Doch Diskussionen über Seilbahnen sind gerade en vogue, wenngleich die Diskussionen darüber in einigen der Städte, in denen sie geführt werden, bestenfalls folkloristischen und populistischen Charakter haben. Um innerstädtischen Verkehrsprobleme zu lösen, sind Seilbahnen meist nicht geeignet. Doch um zerstörungsfreie, naturverträgliche Routen über unwegsame Bereiche zu schaffen, sind sie perfekt. Ebenso bieten sie in der Vernetzung mit schienengebundenem ÖPNV Vorzüge. Sie sind weitgehend wetterunabhängig, im Sommer und im Winter attraktiv. Auf den zweiten Blick hat die Idee einer Seilbahn also durchaus etwas.

Seilbahnen versöhnen und verbinden: Berg und Täler, Flussufer, verkehrlich schlecht angebundene Orte. Sie bieten Ausblicke und Überblicke. Das Fahren allein wird zu einem Erlebnis. Die Stationen könnten auf den vorhandenen Parkplatzflächen errichtet werden. Sie können CO2-neutral mit Ökostrom betrieben werden. Die Seilbahn könnte an die Bahntrasse der Stadtbahn angeschlossen werden. Hier hat es ohnehin Parkplätze auch für die, die vom Auto umsteigen. Anschließen könnte man die Dörfer mit ihren Gasthöfen und Weingütern, was auch ein Beitrag zu verbesserter Alltagsmobilität wäre. Fahrräder und Ski könnten sie transportieren. Die vielen Stellplätze oben wären nicht mehr nötig. Die Skihänge ließen sich einbinden, das neue Nationalparkzentrum. Die Seilbahn wäre hier ein Garant, dass die herausragende Architektur des Nationalparkzentrums nicht von Blechkisten umsäumt wird und der Nationalpark mehr als nur ein punktuelles Highlight und Lieblingsspielzeug der grünen Landesregierung wird. Es wäre eine Option für die Zeit nach dem Wintersport, die unweigerlich kommen wird. Es wäre eine Option für eine Zeit, die andere Mobilität forciert und alltagstauglich macht, die vernetzt, statt immer noch mehr Autos zu generieren. Und deshalb sollte man hier auch vom Land Baden-Württemberg mehr erwarten dürfen als ein paar warme Worte und Hinweise zu den komplizierten rechtlichen Herausforderungen. Wochenendausflüge wie Urlaube könnten mit Seilbahnen zu etwas wirklich Besonderem werden – mit Ausstrahlwirkung auf die Alltagsmobilität. Sie sind leise und elektromobil, bieten Langsamkeit mit Ausblicken und sind dabei schnell. Sie könnten den Schwarzwald beleben, ohne dafür noch mehr Flächen zu versiegeln. Genau deshalb sind Seilbahnen visionär.

Heimat messbar machen

Ich merke es in meinem Blog „Platzmachen“ oder auch, wenn ich für den Bildertanz Reutlingen schreibe: kontrovers wird es immer dann, wenn es um konkrete Orte geht, seien es Städte oder Brunnen oder Plätze. Das war beim Beitrag über den Listbrunnen in Reutlingen so und auch bei dem über das Radfahren in Mannheim. Wir mögen es nicht, wenn sich jemand „Fremdes“ vermeintlich negativ über unsere Stadt auslässt. Das hat möglicherweise etwas zu tun mit mit Lokalpatriotismus oder Heimatverbundenheit oder überhaupt Heimat. Dies führte mich zur Frage, was das mit der Heimat ist?

Über den Begriff selbst tobt aktuell ein Kampf um die Deutungshoheit. Nicht nur der Heimatminister im großen Berlin, der Heimat vor allem als etwas Ausgrenzendes versteht, reklamiert den Begriff für sich – auch die Grünen und der NABU neuerdings. Dabei ist der Heimatbegriff, ohnehin eine ziemlich deutsche Erfindung, noch gar nicht so alt. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bekam er erstmals nennenswert Gewicht. Berühmte und weniger berühmte Menschen haben sich über ihn ausgelassen. Und je mehr man über ihn liest, je deutlicher wird, Heimat ist für jeden Menschen etwas anderes. Im wundervollen Film „WEIT. Die Geschichte von einem Weg um die Welt“ von Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier – der, obwohl Reisefilm, vor allem über Heimat erzählt – sprechen verschiedene Menschen über ihr Bild von Heimat. Die Erkenntnis daraus? Heimat ist manchmal FAMILIE, aber doch irgendwie größer als FAMILIE, mehr als ZUHAUSE oder HEIM oder das eigene STADTVIERTEL. Heimat ist kleiner als das LAND. Es geht um irgendetwas dazwischen.

Daraus folgen Fragen: Kann man sich Heimat aussuchen? Kann man mehrere Heimaten haben? Was ist, wenn man die Heimat verloren hat? Kann man seine Heimat hassen? Kann man heimatlos sein? Irgendwie geht es um einen emotional aufgeladenen, nicht genau definierbaren Ort, der für jede und jeden etwas anderes ist. Das macht es so schwierig, darüber zu diskutieren.

Neulich habe ich einen Blog entdeckt, der sich zur Aufgabe gemacht hat, Heimat messbar zu machen. CRITICITY: Bewerte Deine Stadt. http://www.criticity.de

Das Städtebewertungsportal ist seit Ende 2017 im Netz und will Städte vergleichbar machen. Nun lässt sich einwenden, dass es schon viele Bewertungsportale gibt und mittlerweile fast alles – Restaurants, Ärzte, Firmen, Krankenhäuser, Hotels – bewertet werden kann, was nicht zwangsläufig zu mehr Klarheit führt. Für manche der Bewerteten ruiniert eine schlechte Bewertung den gesamten Ruf. In Zeiten maximaler Transparenz durch das Internet nicht einfach. Auch Städterankings gibt es schon: Die zehn schönsten Kleinstädte oder die zehn lebenswertesten Städte der Welt und so weiter. Wer auch immer da wie bewertet, die Kriterien sind mitunter kaum nachvollziehbar. So wurde 2018 München zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Wenn man die exorbitant hohen Mieten Münchens bedenkt, dann müsste es eigentlich deutliche Abstriche bei der Lebensqualität geben. Denn was nutzt eine Stadt mit schönen Grünflächen, einem sauberen ÖPNV, einem guten Geschäftsklima und guten Gastronomieangeboten, wenn sich eine normal- oder sogar gut verdienende Familie das Leben in der Stadt gar nicht leisten kann, weil die Miete das meiste Geld verschlingt? Genau das hatten die angereisten Bewerter aber offensichtlich nicht bewertet.

CRITICITY geht einen etwas anderen Weg: Städte werden nicht von außen bewertet, sondern durch die Menschen, die darin wohnen. Es gibt ausreichend viele Kriterien, wie Sicherheit, Lebenshaltungskosten, Wohnen, Arbeitsmarkt, Stadtbild, Sport- und Freizeitangebot, Verkehr und Transport, Gastronomie und Nachtleben, Umland und Natur, Bildung, dazu noch einige Zusatzfragen. Damit lässt sich ein guter Durchschnitt ermitteln. Je mehr Menschen mitmachen, je mehr greift die Schwarmintelligenz – die Bewertung nähert sich einer weitgehenden Objektivität an. Schön ist, dass so auch kleine Städte und Dörfer bewertet werden können und wer Lust hat, kann auch noch ein bisschen mehr zu seiner/ihrer Stadt schreiben. Im besten Fall könnte das eigene Feedback sogar Veränderungen anstoßen. Das zumindest erhoffen sich die Macherinnen und Macher.

Hier schließt sich der Kreis zum Heimatbegriff. Wenn Heimat das ist, wo ich mich interessiere, ich mich einbringen will, dann beschäftigt sich CRITICITY mit Heimat. Heimat im Sinne von CRITICITY ist ortsgebunden, als Nutzerin setze ich mich mit meinem unmittelbaren Umfeld, meinem Wohnort auseinander.

Es bleibt die Frage, ob Heimat auch unabhängig von Orten definiert werden kann? Hannah Arendt soll gesagt haben: Schwimmen gibt mir ein Heimatgefühl. Der Satz klang für mich immer befremdlich, braucht es doch für das Schwimmen nur ausreichend Wasser. Und die Vorstellung eines Schwimmbades oder eines Sees als Heimat? Doch dieses Jahr, als ich im türkisblauen, klaren Wasser meines Baggersees am Oberrhein schwamm, verstand ich, was gemeint sein könnte.

Brunnen und Wasserspiele – überflüssiger Schnickschnack

Immer wieder behaupten Stadtplaner und Stadtplanerinnen, dass Gestaltungen mit Wasser, vor allem Brunnen und Wasserspiele, lediglich additive Elemente der Stadtgestaltung seien – zu unwichtig, um sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen. Ich reagiere auf solche Statements meist befindlich, schließlich ist Wasser in der Stadt mein Spezialgebiet – und wer lässt sich schon gern sagen, dass das unwichtig ist. Denn genau das ist im Planerjargon mit ADDITIV gemeint: UNWICHTIG.

Aber vielleicht ist ja etwas dran an der Behauptung? Vielleicht ist gestaltetes Wasser für Städte tatsächlich unwichtig? Deshalb ein kleiner historischer Rückblick.

Ohne Wasser keine Stadt. Alles Leben der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner, aber auch das Grün mit Bäumen und Parks, Gewerbe und Industrie wären ohne Wasser nicht möglich. Durch Städte fließen Flüsse und Bäche. Es gibt Brücken, damit Teil städtischen Wassers. In den historischen Städten kamen noch planvoll angelegte Stadtbäche dazu. Sie lieferten Wasser für Gewerbe und spülten Abfälle aus der Stadt heraus. Und dann waren da die öffentlichen Brunnen, notwendig für die Trinkwasserversorgung, mit ihren Standorten auf Plätzen und Wegekreuzungen.

Wasser war notwendig, barg aber auch Gefahren: Hochwasser, Schlamm, Matsch und Schmutz auf den unbefestigten Wegen. Auslöser für Seuchen und Epidemien waren dieser Dreck und verseuchtes Trinkwasser, dazu kam die permanente Angst vor Brunnenvergiftungen. Schließlich drohten in den eng bebauten Städten Stadtbrände, Wasserknappheit konnte da schnell zur Katastrophe werden. Wasser war sichtbar und allgegenwärtig, die Menschen lebten damit. Der Blick in die Geschichte zeigt auch: Wasser war nie nur funktionales Element, sondern immer gestalterisches und sozialräumliches. Die prächtig geschmückten Marktbrunnen waren Symbole der Macht und Zeichen des Stadtlebens. Brücken waren nicht einfach technische Bauwerke, sondern oft großartige Zeichen der Handwerks- und Ingenieurkunst. Ein weiterer Aspekt des Wassers zeigt sich im Bild der Stadt. Historische Stadtansichten stellen gern Flüsse und Stadt als besondere Kulisse dar. Unter anderem daher rührt die Faszination der Menschen für städtisches Wasser. Darum lieben sie die Brunnen und sitzen gern am Ufer von Flüssen und Seen. Gestaltetes Wasser spricht emotional an, erfreut, sorgt für Wohlbefinden, hatte aber eben immer auch eine Funktion für das Stadtleben.

Dennoch gab es mit dem Beginn der Industrialisierung eine lange Periode, in der das Wasser fast komplett abwesend war. Stadtbäche wurden zugeschüttet, Flussufer mit Straßen und Gewerbe bebaut. Die Flüsse verdreckten, nicht nur weil die Abwassermengen anstiegen, sondern vor allem, weil durch die Industrie hochbelastetes Abwasser in den Flüssen entsorgte. Dazu wurde jede noch so kleine unbefestigte Fläche in der Stadt versiegelt. Pfützen? Eine Katastrophe. Das Regenwasser wurde möglichst schnell in die Kanalisation und die Flüsse abgeleitet. Oft so schnell, dass die Hochwassergefahr rapide anstieg. In der Stadt sichtbar waren nur noch Schmuckbrunnen, tatsächlich manchmal wie additives, austauschbares Stadtmobiliar. Mit diesem technisierten Umgang entfernten sich die Menschen vom Wasser. Wasser und Abwasser als Ware, professionell behandelt von unsichtbar agierenden Ver- und Entsorgungsbetrieben. Das Verständnis für Wasser – für seine lebensbejaenden und bedrohlichen Seiten ging verloren. Vermutlich wäre das so weitergegangen. Doch die ökologische Bewegung der 1970er und 1980er Jahre führte zu einem Umdenken, in Verbindung mit den anhaltenden Hochwässern und der generellen Wiederentdeckung der Stadt. So kam es auch zur Wiederentdeckung des Wassers in der Stadt.

Viele renaturierte Flüsse und Bäche zeugen davon, auch Ufergestaltungen und Parks, bespielbare Bäche mit Liegewiesen. Dazu Wasserspielplätze und Brunnen – beliebt bei Kindern, aber nicht nur bei diesen. Dazu auch wieder das Bild der Stadt am Wasser. Die vielversprechenden Stadtansichten von Köln, Dresden, Tübingen oder Heidelberg sind mehr denn je vielversprechend, da Fluss und Stadt eine Verbindung eingehen, die Menschen emotional anspricht. Leider entsteht diese Verbindung oft nur im Bild, real ist das Flusserleben nicht selten mit Hindernissen verbunden. In Heidelberg zerschneidet eine Bundesstraße das Ufer. In Tübingen ist der Neckar an vielen Stellen nur mittelbar erlebbar, weil die Ufer nicht zugänglich sind. Wenn man nicht gerade Stocherkahn fahren will, gibt es zum Sitzen am Wasser nur die historische Stadtmauer, die Schwindelfreiheit erfordert und ziemlich unbequem ist. Anderswo sind die Städte bereits wieder an den Fluss herangerückt. Sitzstufen und Wege, ja ganze Parkanlagen am Wasser, wie in Frankfurt und in Koblenz, dort sogar mit Seilbahn, welche die Rheinufer verbindet.

Wasser in der Stadt umfasst heute viel mehr Aspekte: Klimawandel mit zunehmenden Starkregenereignissen oder langen Hitze- und Trockenperioden. Anhaltende Versiegelung durch Straßen und Bebauung. Grundwasserverhältnisse, die sich dadurch verschlechtern. Luftverschmutzung durch viel zu viele Autos. Mikroplastik in den Gewässern. Zeiten, in denen Kreisläufe längst keine Kreisläufe mehr sind. Alles Gründe, genauer auf das Thema Wasser in der Stadt zu schauen.

Wasser in der Stadt bedeutet deshalb: Freihalten von Flächen für Hochwasserschutz und gleichzeitig ihre Gestaltung als Parks und Grünanlagen, Versickern und Rückhalten von Regenwasser, Sichern und Ausbauen von Kaltluftschneisen, die oft entlang der Flüsse und Bäche fließen. Sauberhalten der Gewässer, gesundheitliche Vorsorge treffen in den heißen Städten, Abkühlen von Plätzen und versiegelten Flächen, Anreize für Bewegung, Spiel und Sport, erholsame Oasen mit Grün und Wasser, Zugänge zum Wasser schaffen, Sichern lokaler Grundwasservorkommen, Bewässern des Stadtgrüns im Sommer, Umgang mit Starkregen.

Die meisten der benannten Themen laufen in den Städten, wenn überhaupt, nebeneinander: verschiedene Ämter – verschiedene Zuständigkeiten – verschiedene Interessen innerhalb der Stadt. Dabei ist das Thema so umfassend, dass es nur gemeinsam angegangen werden kann. Der Fachbegriff dafür: Wassersensitive Stadtentwicklung.

Wassersensitive Stadtentwicklung betrachtet die Stadt aus dem Blickwinkel des Wassers, nicht nebeneinander sondern miteinander, vernetzt, auch durch das Nutzen gleicher Flächen für unterschiedliche Belange. Das ist am Ende sogar eine Kostenfrage und es spart Platz – in Städten, die keinen Platz mehr haben. Wassersensitive Stadtentwicklung verbindet auch die funktionalen mit den gestalterischen Themen, macht Wasser für die Menschen wieder erfahrbar, nutzbar und schafft lebenswerte Stadt. Dazu gehören auch Brunnen und Wasserspiele – mit ihren Wohlfahrtswirkungen, ihren sozialen Möglichkeiten für das Zusammentreffen der Menschen in der Stadt, ihren stadtklimatischen Vorteilen, ihrer starken Symbolik. Vor allem sie machen Stadt lebenswert.

Darüber habe ich neulich bei der Tagung „Wasser in der Stadt – zwischen Flut und Erlebnis“ beim Netzwerk Innenstadt Nordrhein Westfalen vorgetragen: Faszination Wasser, wiederentdeckt und vielfältig genutzt. Mehr als interessant, denn viele Städte in NRW haben das Thema WASSER für sich bereits wiederentdeckt. Mehr dazu findet Ihr unter: http://www.innenstadt-nrw.de/aktuell/.

Stadtentwicklung zwischen Kommerz und Selbstbestimmung

…oder wieviel Raum für selbstbestimmtes Leben braucht eine Stadt?

Einladung bei der Wunschraumproduktion in der Dresdner Friedrichstadt. Drei Tage lang setzten sich Bewohnerinnen und Bewohner -Zugezogene und schon länger dort Lebende, Kinder des Stadtteils mit ihren Eltern, Vereine und Initiativen – über ihr Recht auf den Stadtteil und ihre Lebensansprüche auseinander. Auf einer baumbestandenen Brachgrundstück inmitten der Friedrichstadt bauten sie ihren Wunschraum, diskutierten über alternative Lebenskonzepte und einen gemeinschaftlichen Freiraum im Quartier, kochten und feierten zusammen.

Es war anregend, ermutigend und ernüchternd. Die Brache wird noch dieses Jahr bebaut. Damit verschwindet ein bedeutender Freiraum im Quartier. Damit verschwindet die Möglichkeit für eine Quartiersmitte in einem immer dichter werdenden Stadtviertel. Das wirft Fragen auf. Über den Umgang mit der Stadt, in Dresden, aber nicht nur in Dresden.

Aus dem Außenblick kennt man Dresden durch Kunst und Kultur, die touristisch herausgeputzte Altstadt und vielleicht durch Dresden-Neustadt mit seiner Kneipen- und Szenekultur. Dabei hat Dresden auch eine höchst lebendige alternative Kunst- und Kulturszene. Bislang gab es immer den Raum dafür, sei es auf Brachen oder in leerstehenden Gebäuden. Doch Dresden wächst und damit wächst der Druck auf genau diese Flächen.

Die Dresdner Stadtentwicklungspolitik (unabhängig von der aktuellen Zusammensetzung des Stadtrates) setzt auf Investoren. Städtisches Eigentum wurde in den letzten Jahren massiv veräußert – trauriger Höhepunkt war 2006 der Verkauf des kommunalen Wohnungsbestandes an eine amerikanische Investmentgruppe, was sich im Nachhinein als Riesenmogelpackung und Wertevernichtung herausstellte. Städtische Bodenbevorratung gibt es kaum. Bevorzugt werden vorrangig Investoren mit Interesse an großen Projekten. Zwar gibt es das Ziel, Baugruppen, Genossenschaften und alternative Projekte zu fördern, doch der Rahmen dafür ist überschaubar. In den letzten Jahren hat sich die Stadt sehr verändert, manchmal ist das gut, aber oft auch nicht.

Beispiel Friedrichstadt

Ein Stadtteil mit Potenzial, ein Stadtteil im Wandel, direkt angrenzend an die Altstadt. Ein wilder Mix aus Industrie, barocker und gründerzeitlicher Bebauung, Plattenbauten aus längst vergangenen DDR-Zeiten, Gleisanlagen der Deutschen Bahn in Wartestellung und großen Verkehrsschneisen. Inmitten des Stadtteils thront das Friedrichstädter Klinikum mit seinen barocken Gebäuden, wundervollen Zierbrunnen und seinem Park. Dazwischen Brachflächen. Lange Zeit sah es hier nicht nach Veränderung aus. Um das Gebiet zu „stabilisieren, private Investitionen zu initiieren und eine Profilierung zum Innenstadtergänzungsgebiet mit Stärkung der Wohnfunktion“ zu erreichen, wies die Stadt 2003 ein Sanierungsgebiet aus. Mittlerweile kommen die Investoren und die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner hat sich auf 10.000 verdoppelt.

Fast noch schlimmer als die neuen gesichtslosen Wohnkomplexe ist der neu entstandene, lieblose Stadtraum mit aneinandergereihten Tiefgaragenzufahrten und toten Erdgeschosszonen. Mit jeder bebauten Brache verschwindet wildes, ungeordnetes Grün, aber auch Kreativität der Bewohnerschaft, die sich die Brachen in den vergangenen Jahren teilweise angeeignet hatten. Neue Freiräume wurden von der Stadt vor allem am Rand des Quartiers weitab von den vorhandenen sozialen Zentren des Quartiers geplant, dazwischen für Kinder unüberbrückbare Straßenschneisen. Diese neuen Freiräume sind Orte der Ödnis fernab von lebenswerten Aneignungsmöglichkeiten.

Den Bewohnerinnen und Bewohner wird Stück um Stück ihr Stadtteil genommen, die Zugezogenen finden ein Quartier vor, das historisch gewachsen scheint, aber keine Mitte hat. Die Unzufriedenheit wächst, wobei sie sich nicht prinzipiell gegen neue Bebauung richtet. Es geht um die Art der Bebauung und um den Verlust zentraler Freiräume. Es geht um den Wunsch nach Individualität und Räumen, die nicht fertig gestaltet sind und Möglichkeiten für eigene Ideen lassen. Es geht um Platz für alternative Konzepte jenseits des klassischen urbanen Mainstream. Es geht um die Art der Beteiligung, denn natürlich fanden und finden im Rahmen des Sanierungsgebietes von der Stadt organisierte Beteiligungen statt. Doch in dem mittlerweile 15 Jahre alten Rahmenplan finden sich viele Menschen nicht mehr wieder.

Die Wunschraumproduktion machte auf dieses Defizit aufmerksam und suchte nach Lösungsansätzen.

Beispiel Elixir

Die öffentliche Außenwahrnehmung Dresden, vor allem im Westen und Süden Deutschlands, könnte derzeit nicht negativer sein – Pegida und der Umgang mit Flüchtlingen haben deutliche Spuren hinterlassen. So etwas mag keine Stadt und so gibt es reichlich vollmundige Bekenntnisse zu Weltoffenheit und Integration. Natürlich gibt es einige Vorzeigeprojekte wie die Zukunftsstadt oder die Bewerbung um die Kulturhauptstadt Europas. Doch wie ernst sind die politischen Bekenntnisse tatsächlich gemeint?

Der Verein Elixier wollte in der ehemaligen Arbeitsanstalt in der Neustadt ein Zentrum für gemeinsames Leben, Lernen und Kulturschaffen errichten, in dem Dresdnerinnen und Dresdner sowie Geflüchtete ein Heim finden sollten. Ein wegweisendes Projekt für nachbarschaftliches Zusammenleben, gelebte Integration und sozial und finanziell nachhaltigen Wohnungsbau. Ein mutiges Projekt mit hohem ehrenamtlichen Einsatz, der normalerweise von der Politik gewünscht und angepriesen wird. Allerdings hatte die Stadt das Grundstück bereits auf dem freien Markt angeboten, das Vergabeverfahren hätte geändert werden müssen. Ohne den Sumpf der zähen Verhandlungen noch einmal aufzukochen: das Projekt scheiterte an zwei Stimmen im Stadtrat und die SPD spielte in diesem Sumpf eine mehr als unglücksselige Rolle Das Engagement wurde dem schnellen Gewinn zum Fraß vorgeworfen – so die Lesart der Initiative und Befürworter des Projektes.

Beide Projekte, Elixir und Wunschraumproduktion offenbaren ein grundlegendes Verständigungsproblem in der Stadtgesellschaft. Innerhalb institutionalisierter Stadtentwicklungspolitik findet sich wenig Raum für Entwicklungspotenziale der Bewohnerschafft, freie Stadtaneignung und Initiativen jenseits des Mainstream.

Stadtentwicklungsprozesse für städtebauliche Erneuerungsmaßnahmen bergen zudem großes Konfliktpotenzial: Am Anfang ist ihr Abstraktionsgrad so hoch, dass die Pläne nur von Fachleuten verstanden werden kann. Bewohner und Initiativen fühlen sich erst angesprochen, wenn konkrete Umbaumaßnahmen einsetzen. Zeiträume von 10 und mehr Jahren – so wie in der Friedrichstadt – oder langfristig vorbereitete Vergabeprozesse wie beim Beispiel Elixir und der ehemaligen Arbeitsanstalt, die vorher Jahre leer stand, sind für Bürgerschaft, Initiativen und Vereine kaum verstehbar. Die Zeiträume passen nicht zur Eigendynamik des sozialen Miteinanders im Quartier, das viel kürzer ausgerichtet ist. Vereine und Initiativen erfahren in der Regel spät, wenn Veräußerungsabsichten bestehen. In regulären Ausschreibungsverfahren können sie nicht mitbieten, denn für die Klärung von Finanzierungsfragen brauchen sie Zeit.

Und so stehen die zunehmende Flexibilität der Nutzungsbedürfnisse der Bürgerschaft und die Trägheit institutionalisierter Stadtentwicklungspolitik nahezu unversöhnlich gegenüber.

Wenn man Vielfalt beschwört, muss man sie leben. Städte brauchen deshalb auch alternative Stadtentwicklungskonzepte. Deren Mehrwert ist hoch, auch wenn er sich oft nicht auf den ersten Blick zeigt. Stadt steht immer noch für Aufbruch und Modernität, aus dem auch neue Wirtschaftskraft entstehen kann. Und wirtschaftlich ist mit alternativen Konzepten schon lang kein Nachteil mehr verbunden. Örtliche Banken, Architekten, Bauunternehmen und Handwerker partizipieren viel stärker durch alternative Modelle als bei Investoren, die die Preise drücken.

Damit ist die Aufgabe für die Städte und die Initiativen abgesteckt.

Selbstbestimmte Entwicklungen beim Wohnen, bei Kultur, bei den urbanen Freiräumen wollen erkämpft werden. Initiativen brauchen die Vernetzung untereinander. Gemeinsam ist man stark. Dazu Partner suchen, in der Politik, in der Verwaltung. Und eine gewisse Professionalisierungen ist auch notwendig.

Städte und ihre Administrationen wiederum müssen Unterstützung bieten, damit sich Bürger und Vereine im Dschungel der Zuständigkeiten der Verwaltungen und der professionell verworrenen Ausschreibungs- und Vergabebedingungen zurechtzufinden. Es braucht ein Klima, in der Initiativen willkommen sind und Lotsen, die helfen, informieren, vernetzen. Es braucht städtische Grundstücksbevorratung. Es braucht eine konsequente Beteiligungspolitik, die nicht nur den Schein vermittelt, dass Mitsprache und Engagement erwünscht sind, sondern tatsächlich Raum lässt.

Was passiert, wenn eine Stadt das alles nicht macht? Nur scheinbar nicht viel. Sie wird langweilig, Stück für Stück. Das Mittelmaß ruft. Manchen reicht das. Denen das nicht reicht, sei ein Blick nach Leipzig und Tübingen empfohlen. Dort finden sich nachahmenswerte Beispiele.

siehe auch:

https://wunschraumproduktion.tumblr.com/

https://www.elixir-dresden.de/

rm16.blogsport.de/

Reutlingen und die Brunnen, zu schön um wahr zu sein.

In etwas geänderter Form erschien dieser Beitrag dieser Tage im rv-bildertanz.blogspot.com/

Hier noch mal der Fokus ganz speziell auf die Brunnen Reutlingens gerichtet, die tatsächlich etwas Besonderes, Bemerkenswertes und Beschreibenswertes sind.

Reutlingen in Baden-Württemberg! Eine mittelgroße Stadt im Südwesten, wer kennt die schon? (Pardon, Reutlingen ist natürlich eine Großstadt). Dennoch haftet der Stadt etwas Kleinstädtisches an. Und wo immer man hinkommt, muss man erklären, wo Reutlingen liegt: südlich von Stuttgart – naja, neben Tübingen – geht gar nicht bei all der Konkurrenz zwischen beiden Städten, in der Tübingen immer strahlender scheint.

Was macht also eine Stadt, die aus der Mittelmäßigkeit der Wahrnehmung hinauswill? Sie kreiert eine MARKE. Jüngst kündigte die Oberbürgermeisterin einen Markenbildungsprozess an, damit die Stadt endlich als das wahrgenommen wird, was sie ist: strahlend, kulturell herausragend, mit einer gefühlt hohen Baukultur, sozialen Segnungen, einer prosperierenden Wirtschaft, die aber dennoch zu wenig Steuern in die Stadtkasse spülen, einer großen Tradition als Reichsstadt. Und trotzdem ist Reutlingen offenbar weitgehend unbekannt.

Nun ist das mit Markenbildungsprozessen so eine Sache, Kopfgeburten meist und wenn sie als Top-Down-Prozess durchgeführt werden, nicht selten zum Scheitern verurteilt oder doch mit erheblichen Gefahren verbunden, wenn irgendwann das, was die Marke propagiert, von den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich eingefordert wird. Marken haben es an sich, dass sie beliebig sind, Slogan, die auch nach hinten losgehen können. Man denke an Karlsruhe: VIEL VOR VIEL DAHINTER oder lieber VIEL DAVOR UND NIX DAHINTER, wie es im Volksmund gern heißt? Meist haben die Städte ein starkes Bedürfnis nach einer Marke, die sich eben nicht durch irgendetwas Exklusives, Besonderes auszeichnen (was auf Karlsruhe gar nicht zutrifft, doch wer würde schon Kassel kennen, gäbe es da nicht die DOCUMENTA)

Dennoch hat jede Stadt Besonderheiten, die sie liebenswert machen, und die vor allem für die eigenen Bürgerinnen und Bürger wichtig sind. Oder auch die Region, aber eben nicht für ganz Deutschland, Europa oder die Welt. Und ist das wirklich wichtig? Bekannt sein in der ganzen Welt?

Für Reutlingen fallen mir einige Besonderheiten ein. Das prägende industrielle Erbe, welches bis zur Unkenntlichkeit verschwunden ist, als würde man sich dessen schämen. Die wundervollen Feste und Veranstaltungen wie Weindorf, Neigeschmeckt Markt und Garden Life, die auch nicht alle nur beliebt sind. Die fast vergessene große Tradition des pomologischen Institutes und seine Wiedergeburt im Streuobstparadies, in der Stadt leider bisher weitgehend unbeachtet. Das Biosphärengebiet, doch das ist ja die Schwäbische Alb und nicht die Stadt. Eine ganz nette Altstadt mit ein bisschen Kultur, auch wenn schon seit Jahren verzweifelt versucht wird, eine überregionale Kulturstadt zu werden, die Reutlingen bei aller Sympathie wohl (trotz der wundervollen Württemberger Philharmonie und einiger ganz netter Museen) nicht werden wird und vielleicht auch gar nicht muss.

Eine Besonderheit sind die Brunnen. Nur wenige Städte der Größe Reutlingens haben mehr davon. Die Nachbarstadt Tübingen (es lebe die permanente Konkurrenz) hat 42).

Dieses und letztes Jahr kamen zwei neue hinzu, konzipiert und geplant von der Autorin dieser Zeilen, die sich zu ihrer Brunnenliebhaberei gern öffentlich bekennt. Die Brunnen könnten also eine neue Ära im Umgang mit dem manchmal ungeliebten Thema eröffnen, weshalb sich ein wohlwollender Blick lohnt.

Fast 90 Brunnen schmücken Reutlingen, städtische und dörfliche, große und kleine, alte und ganz neue – mit unglaublichen Geschichten, die viel mit der Geschichte der Reichsstadt Reutlingen zu tun haben, geliebt von den Bürgerinnen und Bürgern, gern vergessen von den Stadtoberen – außer natürlich bei Einweihungen- trotz widriger finanzieller Bedingungen sorgsam gehegt von der städtischen Grünpflegeabteilung.

Da ist der Maximilianbrunnen auf dem Marktplatz, ein prachtvoller Renaissancebrunnen, 1570 zu Ehren des Kaisers Maximilian II. errichtet, um ihn zu bewegen, der Stadt die Zunftrechte zurückzugeben. Diese waren der widerspenstigen Stadt entzogen worden, die protestantisch bleiben wollte und sich den Rekatholisierungsversuchen erfolgreich zu Wehr setzte. Es ging um das Prinzip und der Preis war hoch, denn Zunftrechte waren seinerzeit die Basis für Wohlstand. Die Lehre daraus: Wie macht man sich die Mächtigen gefügig, denn der Plan ging auf. 1578 erhielt Reutlingen die für die Stadt so wichtigen Zunftrechte zurück.

Kaiser Maximilian Brunnen – schon immer trafen sich vor allem Frauen am Brunnen (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da ist der Kaiser Friedrichbrunnen, ebenfalls ein Renaissancebrunnen von 1561 mit einer streng dreinblickenden, abweisenden Figur, die an den Verleiher der reichsstädtischen Rechte im Jahr 1180 erinnert. Herrscher mussten noch nie freundlich sein, das ist heute ein bisschen anders.

Da ist der Lindenbrunnen, ein kunstvoller gotischer Dreipfeilerbrunnen, der einzige seiner Art, der sich nördlich der Alpen erhalten hat, 1544 errichtet, als das gotische Zeitalter schon lange überwunden und der Moderne der Renaissance gewichen schien. Doch man war in Reutlingen offenbar schon immer besonders traditionell.

Da ist der Brunnen im Volkspark, der erst 80 Jahre nach seiner Planung gebaut wurde – die Landesgartenschau machte es möglich. Vorher wollte man zwar mit einem spektakulären Entwurf groß hinaus, endete aber doch schwäbisch pietistisch beim Sparen, befördert durch schwere Zeiten.

Da ist der Gerberbrunnen, in einer Zeit entstanden, als Wichtigeres anstand als Brunnenbau, und der an die große städtische Tradition der Gerber und Färber erinnert und deshalb wohl auch wichtig für die Stadtgesellschaft war. Gerberbrunnen und Gartentorbrunnen dienten übrigens lange Zeit zum Gautschen, diesem feinen Ritus zum Ende der Lehrzeit, bei dem die frisch gebackenen Gesellen von ihren Unarten und Schandtaten freigesprochen werden. Eine Tradition, untergegangen mit den Berufen der Gerber, Färber und Buchdrucker. Schade eigentlich.

Gartentorbrunnen und das Gautschen der Buchdrucker (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da ist der Rathausbrunnen, eine prachtvolle Anlage der frühen 60er Jahre, zusammen mit dem Rathaus entstanden, der Stolz der Stadt. Heute ist der Glanz beider (Rathaus und Brunnen) verblichen und gebadet werden darf schon lange nicht mehr.

Rathausbrunnen – Baden verboten heißt es heute (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da waren die 1980er Jahre, eine große Zeit für die Reutlinger Brunnen. Der feinsinnige Baubürgermeister ließ viele neue errichten. Ein Beispiel dafür ist der Handwerkerbrunnen in der Altstadt. Brunnen waren wichtig für die Bürger, er hat es erkannt.

In den letzten Jahren zwei neue Anlagen, beide nicht unumstritten, aus Sicht der Autorin beide notwendig. Der im Bürgerpark steht für ein modernes, junges Reutlingen, und wer hätte je gedacht, dass BÜRGERPARK eben nicht nur ein Marketinggag ist, sondern sich mit Leben füllen lässt – trotz Störfeuer einiger verbissener Hygienefanatiker. Viel Arbeit war das, gelohnt hat es sich. Der Wasserlauf auf dem Weibermarkt verbindet die Geschichte der Stadtbäche mit neuen, zeitgemäßen Raumaneignungen. Man darf gespannt sein, was im Umfeld passiert.

Wasserspiel im Bürgerpark – Name ist nicht immer nur Schall und Rauch (Foto: Markus Niethammer)

Es gäbe noch mehr zu erzählen.

Natürlich kosten Brunnen Geld, doch sie sollten es uns wert sein. Brunnen sind eben viel mehr als nur ein bisschen schmückendes Beiwerk. Sie zeigen Stadtgeschichte im Großen und Kleinen, Geschichten von Macht und von der Rolle der Menschen in der Stadt, von Begegnungen, auch von Streit und Versöhnung. Sie sind Zeichen und wichtige Begegnungsorte für die Stadtgesellschaft, am Brunnen trifft man sich…das war schon immer so. Nicht zuletzt deshalb gibt es in einigen Städten Patenschaften und Vereine, die sich um das Wohlergehen der Brunnen einsetzen, auch finanziell.

An dieser Stelle könnte man enden, gäbe es da nicht den Listplatzbrunnen oder vielmehr das, was übrig ist von ihm.

Wie kaum ein anderer Zeichen für den großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruch nach Kriegsende. Viele Menschen erinnert gerade dieser Brunnen an ihre Kindheit und Jugend oder das Ankommen in der Heimat, wenn man aus dem Bahnhof trat. In einer Hauruckaktion zur Verschönerung des Bahnhofsplatzes 1954 errichtet. Mit dem typischen nierenförmigen Becken, mit Fontänen und nachts farbig illuminiert. Die Reutlinger pilgerten in Scharen hin. Dennoch war er in den letzten Jahren ungeliebtes Kind der Stadtplanung, die in einer sogenannten Rahmenplanung City Nord lieber freie Sichtachsen und steinerne Plätze propagiert. Für einen altbackenen Brunnen war da kein Platz mehr. Für die Autorin war der Beschluss zum Zuschütten des Brunnens einer der schlimmen Momente ihrer Reutlinger Berufszeit, sie hätte den Brunnen gern erhalten, doch das hätte eben Geld und politischen Willen erfordert. Der öffentliche Sturm der Entrüstung war denn aber doch überraschend, berechtigt war er und Ausdruck einer fatalen Fehleinschätzung der Bedeutung dieses Brunnens.

Listplatzbrunnen 2012 – schon stillgelegt, aber noch nicht zugeschüttet (Foto: Katrin Korth)

In der Zeit danach hat die Autorin einige Menschen angesprochen, durchaus respektable Persönlichkeiten der Stadtgesellschaft, ob sie sich nicht eine gemeinsame Aktion zur Rettung des Brunnens vorstellen könnten. Leider erhielt sie nur Absagen.
So tröstet sie sich mit einem privaten Sponsoring in ihrer Geburtsstadt Magdeburg, mit dem der Betrieb eines feinen kleinen Brunnens gesichert wird. Und immer mal wieder sinniert sie darüber, was denn wäre, wenn sich für den Listplatz Sponsoren finden würden. Ganz im Sinne der „Köpfe für Reutlingen“ und ihrem berühmten Zitat von Kennedy: fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt.

Die Autorin wäre bereit für ein TUN, wenn sich denn Mitstreiterinnen und Mitstreiter fänden.