Automobiler Schwarzwald – oder – Denken über Alternativen

Wenn in den Niederungen am Oberrhein im Winter der Nebel drückt und es gar nicht hell werden will, dann versprechen die Höhen des Schwarzwaldes Erlösung. Vor allem bei Inversionswetter durchschneiden ihre Wipfel die Dunstbänke und liegen im Sonnenlicht. Über ein Wattemeer reicht der Blick bis hinüber in die Vogesen. Manchmal lugen noch die Spitzen der Kirchtürme wie Masten versunkener Schiffe hervor. An solchen Tagen locken die Höhen besonders. Das klingt wildromantisch, doch mit dem Hinaufkommen ist es so eine Sache. Der Schwarzwald ist ein Eldorado motorisierter Mobilisten und eines in die Jahre gekommenen Massentourismus. Breite Straßenschneisen und bequeme Spazierwege, beliebige Eventgastronomie mit gigantischen Parkplatzanlagen vor brutal geschneisten Skihängen, die dennoch in ihrer Kürze kaum Herausforderungen bieten, dazu lärmgeplagte Ortschaften entlang der Zufahrtsstraßen, deren abgasverrußte Fassaden nur erahnen lassen, dass es sich um malerische Erholungsorte handelt.

Natürlich ist der Schwarzwald ein Natur- und Wanderparadies mit wundervollen Wegen und Steigen und einladenden Ausflugszielen. Ein Beispiel dafür ist die Hornisgrinde, höchster Gipfel des Nordschwarzwaldes, mit seinen Aussichtstürmen, dem Hochmoor und der Wanderhütte. Lange Jahre war das gastronomische Angebot auf der Hornisgrinde von eher provisorischem Charakter. Seit Dezember 2018 begrüßt die neue Grindehütte Wanderer und Ausflügler. 2,5 Millionen Euro investierte die Waldgenossenschaft Seebach in anspruchsvolle Architektur und will an die vormilitärischen Zeiten am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts anknüpfen, als Hornisgrinde und Mummelsee das beliebteste Ausflugs- und Urlaubsziel der Region waren. Das nur auf den ersten Blick schlichte Bauwerk mit einer Natursteinfassade verbindet zeitlose Moderne mit Schwarzwaldtradition. Mit seiner offenen Galerie, den großen Panoramafenstern und dem Kaminofen in der Mitte des Gastraums bietet die Hütte großartige Ausblicke und ist dennoch überraschend gemütlich. Das Wanderherz freut sich ob der neuen Möglichkeit zur Einkehr – weit ab vielbefahrener Straßen und massentouristischer Angebote.

Grindehütte, Foto: Katrin Korth

Wer zu Fuß oder mit dem Mountainbike an der Hütte ankommt, reibt sich möglicherweise dennoch verwundert die Augen. Neben der Hütte befindet sich seit neuestem ein öffentlicher Parkplatz, mit Platz für 50 Autos. „Zufahrt für Gäste und Besucher frei.“ Von dieser werbenden Botschaft fühlen sich nicht wenige Menschen eingeladen, den Ausflug auf den Gipfel gleich ganz mit dem Auto zu machen, anstatt einen der Parkplätze an der Schwarzwaldhochstraße anzusteuern. Die Folge ist ein ausgesprochen reger und zügiger Autoverkehr auf dem Zufahrtsweg und in der Folge regelmäßig unschöne Szenen zwischen Wandernden und Automobilisten. Kampfgebiet Hornisgrinde. Eine intelligente Schranke soll noch installiert werden, die anzeigen soll, ob noch Parkplätze frei sind. Allerdings erst im nächsten Sommer. Man will Chaos vermeiden und es lieber richtig machen, so der Bürgermeister von Seebach, auf dessen Gemarkung die Grindehütte liegt. Ohnehin beruft sich die Gemeinde vorrangig auf das Teilhabegesetz: auch mobilitätseingeschränkte Menschen sollen die Hütte besuchen können. Bis zum Sommer nimmt man also lieber das Chaos und den Ärger der Wandernden in Kauf. Zweifelsohne, es ist eine Gratwanderung in der Abwägung der Interessen. Schließlich können Betreiber der Wanderhütte nicht nur von den Wandernden leben und haben deshalb die Parkplätze beantragt. Und doch bleibt ein schales Gefühl. Freie Fahrt für freie Bürger – hinauf auf den letzten Gipfel. Ein Schelm, der da was Böses denkt.

50 Stellplätze an der Grindehütte, Foto: Katrin Korth

In den sozialen Medien sind die Meinungen gespalten. Es reicht von „Warum nicht auch denjenigen die Chance geben, mal auf die Hornisgrinde zu gehen, denen es zu Fuß nicht möglich ist?“ über „Autos haben im Wald nichts verloren. Wer hoch will soll das Rad nehmen oder zu Fuß gehen. Für den Rest fährt ein Bus. Das ist Natur und kein verdammter Rummelplatz.“ Dazwischen Beiträge die sich über die Unzuverlässigkeit und Unbequemlichkeit der Busse beschweren.

Womit sich der Kreis schließt. Wie viel und welchen Tourismus will der Schwarzwald? Heißt Teilhabe wirklich, dass jeder Ort, jeder Gipfel, jede Höhe erreicht werden können muss, notfalls mit dem Auto? Bekommen jetzt auch alle Aussichtstürme auf der Hornisgrinde Aufzüge? Der Teilhabe wegen? Oder geht es nicht vielmehr vor allem um unsere eigene Bequemlichkeit. Denn tatsächlich gibt es einen Ausflugsbus nach oben. Doch die Busse sind eben nicht wirklich bequem, das Angebot nur bedingt bekannt, man muss sich nach den Abfahrtszeiten richten. Und schließlich: Busfahren ist irgendwie so gewöhnlich, so wenig hipp, trotz aller Verheißungen neuer Mobilität und digitalisierter Welt mit modernen Apps für Fahrpläne und Tickets. So kommen die meisten Menschen mit dem Auto, zumal es ausreichend Parkplätze gibt, die in den letzten Jahren immer mehr erweitert wurden. Zuletzt wurden 124 neue Parkplätze am Mummelsee errichtet. Schlappe 3.100 qm Fläche gingen dafür darauf. Auch das neue Nationalparkzentrum wird mit einer opulenten Parkplatzanlage ausgestattet. Entlang der gesamten Schwarzwaldhochstraße und ihren Zufahrten reiht sich ein Band von Parkplätzen. Dazu kommt, dass die Schwarzwaldhochstraße beliebtes Fahrgebiet der Motorradmobilisten ist, von denen nur einige angepasst fahren. Kreuze säumen die Rennstrecken. Hat man Ärzte im Bekanntenkreis, weiß man, dass diese irgendwann das Gebiet in ihrer Freizeit meiden, um nicht im Wochentakt bis zur Unkenntlichkeit entstellte, verunglückte Fahrer von der Straße zu kratzen.

Die Verkehrsüberlegungen von Nationalpark und Naturpark setzen auf ÖPNV. Gleichzeitig werden immer mehr große Parkplätze gebaut. Das klingt nach „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Und so ist der Schwarzwald immer noch vor allem auto- und motoradmobil. Die verstreuten, eigentlich idyllisch gelegenen, kleinen Erholungsorte bleiben weiter Zufahrten. Ohne nennenswertes Gewerbe ist es für sie schwer, wirtschaftlichen Aufschwung zu generieren, zumal dem Schwarzwald immer noch etwas Beschauliches und Antiquiertes anhaftet. Auch die Hoffnung auf Aufschwung durch Wintersport wird sich im fortschreitenden Klimawandel nicht erfüllen, da helfen selbst noch mehr Schneekanonen nicht.

Neulich berichtete die Lokalzeitung wieder von der Idee, die Höhen über eine Seilbahn zu erschließen. Abwegig auf den ersten Blick. Doch Diskussionen über Seilbahnen sind gerade en vogue, wenngleich die Diskussionen darüber in einigen der Städte, in denen sie geführt werden, bestenfalls folkloristischen und populistischen Charakter haben. Um innerstädtischen Verkehrsprobleme zu lösen, sind Seilbahnen meist nicht geeignet. Doch um zerstörungsfreie, naturverträgliche Routen über unwegsame Bereiche zu schaffen, sind sie perfekt. Ebenso bieten sie in der Vernetzung mit schienengebundenem ÖPNV Vorzüge. Sie sind weitgehend wetterunabhängig, im Sommer und im Winter attraktiv. Auf den zweiten Blick hat die Idee einer Seilbahn also durchaus etwas.

Seilbahnen versöhnen und verbinden: Berg und Täler, Flussufer, verkehrlich schlecht angebundene Orte. Sie bieten Ausblicke und Überblicke. Das Fahren allein wird zu einem Erlebnis. Die Stationen könnten auf den vorhandenen Parkplatzflächen errichtet werden. Sie können CO2-neutral mit Ökostrom betrieben werden. Die Seilbahn könnte an die Bahntrasse der Stadtbahn angeschlossen werden. Hier hat es ohnehin Parkplätze auch für die, die vom Auto umsteigen. Anschließen könnte man die Dörfer mit ihren Gasthöfen und Weingütern, was auch ein Beitrag zu verbesserter Alltagsmobilität wäre. Fahrräder und Ski könnten sie transportieren. Die vielen Stellplätze oben wären nicht mehr nötig. Die Skihänge ließen sich einbinden, das neue Nationalparkzentrum. Die Seilbahn wäre hier ein Garant, dass die herausragende Architektur des Nationalparkzentrums nicht von Blechkisten umsäumt wird und der Nationalpark mehr als nur ein punktuelles Highlight und Lieblingsspielzeug der grünen Landesregierung wird. Es wäre eine Option für die Zeit nach dem Wintersport, die unweigerlich kommen wird. Es wäre eine Option für eine Zeit, die andere Mobilität forciert und alltagstauglich macht, die vernetzt, statt immer noch mehr Autos zu generieren. Und deshalb sollte man hier auch vom Land Baden-Württemberg mehr erwarten dürfen als ein paar warme Worte und Hinweise zu den komplizierten rechtlichen Herausforderungen. Wochenendausflüge wie Urlaube könnten mit Seilbahnen zu etwas wirklich Besonderem werden – mit Ausstrahlwirkung auf die Alltagsmobilität. Sie sind leise und elektromobil, bieten Langsamkeit mit Ausblicken und sind dabei schnell. Sie könnten den Schwarzwald beleben, ohne dafür noch mehr Flächen zu versiegeln. Genau deshalb sind Seilbahnen visionär.

Mit dem Fahrrad unterwegs in Mannheim

2017 wurde Mannheim als fahrradfreundliche Kommune Baden-Württembergs ausgezeichnet. Vielleicht hätte ich das lesen sollen, bevor ich mit dem Fahrrad in Mannheim unterwegs war. Und vielleicht hätte ich dann auch vorher im Internet recherchieren sollen, wie man sich radelnd gut durch Mannheim bewegt.

Mannheim hätte gute Voraussetzungen zum Fahrradfahren, die Stadt ist topfeben. Doch Stadt ist vor allem autogeprägt. Auffällig die Hochstraßen. Das benachbarte Ludwigshafen stampfte in den 1960er Jahren das PROJEKT VISITENKARTE aus dem Boden. Aufgeständerte Autobahnen inmitten der Stadt waren für die damaligen Verkehrsplaner modern. Über den Rhein und die Hafenanlagen reichen die Hochstraßen bis nach Mannheim hinein. Unter ihnen, radelnd oder gehend, fühlt man sich klein und verletzlich. Heute sind die Hochstraßen vor allem marode. Den Verkehrsinfarkt haben sie nicht verhindert, dafür das Stadtbild nachhaltig verschandelt. Selbst Mannheims Schlossgarten wird von Hochstraßen zerschnitten. Dazwischen winden sich schmale Radwege, deren Beschilderung sich vermutlich vor allem Einheimischen erschließt.

Wir entdecken eine Fahrradstraße. Aufgeklärte Radelnde wissen, dass sie hier Vorrang haben und schnell vorankommen sollten. Wären da nicht die vielen Schlaglöcher, so dass man das Rad lieber schiebt.

Visitenkarte Hochstraße, Katrin Korth

Auch im Einbahnstraßengewirr der Quadrate braucht es Überwindung, Rad zu fahren. Parkplätze dominieren das Stadtbild, die Gehwege sind schmal, Fahrräder scheinen zu stören. Jederzeit droht eine Kollision mit einem tiefergelegten aufgepimpten Automobil einschließlich seines goldkettchenbehängten Fahrers. Wir erreichen den Paradeplatz, einen der wichtigsten Stadtplätze Mannheims. Zwischen Stadtbahnhaltestellen, Konsumtempeln, Dönerläden und Stadthaus, welches noch keine dreißig Jahre alt ist und dennoch merkwürdig aus der Zeit gefallen scheint, versucht sich in der Platzmitte die barocke Grupello-Pyramide zu behaupten, umrahmt von Rasenflächen und Blumenbeeten. Ein wildes Konglomerat.

Durch Viertel, die sich eher wie Basare im Süden Europas anfühlen, so bunt ist das Sprachengewirr, geht es weiter zum Jungbusch. Im einst stolzen gründerzeitlichen Hafen-, später Rotlicht- und heute Szeneviertel suchen wir die vor einigen Jahren mit viel Aufwand realisierte Promenade am Kanal. Tagsüber zeigen sich vor allem die Brüche und noch nicht eingelösten Versprechen für den Wandel des Quartiers. Neben einer Tankstelle der zentrale Platz am Wasser mit deutlichen Zeichen von Vandalismus: Müll, Scherben und ein durchdingender Geruch nach Urin. Direkt angrenzend die Popakademie und teure Lofts und Eigentumswohnungen. Eingestreut einige Cafés und Kneipen, deren Plakate mit der Bitte, das Viertel nicht zuzumüllen, von der schwierigen Gratwanderung zwischen Kreativen, Szene und Kommerz, zwischen Zugezogenen und den dort schon immer ansässigen Bewohnerinnen und Bewohnern zeugen. Das Rad schiebt man auch hier besser.

Quartiersplatz im Jungbusch, Katrin Korth

Relativ ungestört radeln lässt es sich auf dem Uferweg am Neckar, wenn auch von der Stadt nicht viel zu erleben ist. Wären da nicht die Schnellradler, die mit ihrem Klingeln deutlich anzeigen, dass nebeneinander herfahrende, miteinander plaudernde Radelnde einfach nur nerven.

Mannheim wirbt mit Besonderheiten: mit der zweitgrößten Schlossanlage Europas, mit einer der angesehensten bürgerschaftlichen Kunstsammlungen der deutschen und internationalen Moderne bis zur Gegenwart, mit seinem gründerzeitlichen Wasserturm, mit dem Luisenpark als schönste Parkanlage Europas. Das Schloss, ein eher trister Bau, der die Universität beherbergt. Die Kunsthalle mit ihrem nagelneuen Erweiterungsbau von gmp und ihrer Idee der „Stadt in der Stadt“, vo außen wirkt sie wie eine Lagerhalle, die auch im Hafengelände stehen könnte. Der Wasserturm mit seinem Brunnenprospekt, seltsam losgelöst von der umgebenden Stadt und umtost vom Autolärm. Lohnenswert der Luisenpark, eine gepflegte, bürgerliche Oase im Dickicht der Stadt, trotz acht Euro Eintritt. Ob der Park wirklich der schönste in Europa ist? Mir fallen da andere Parks ein. Dennoch, der Charme der Gartenschau von 1975 wirkt immer noch. Weite baumbestandene Rasenflächen, liebevolle Details, dazu immer wieder Zeichen spendenbereiter Mannheimer, wenn auch der Park insgesamt und vor allem seine Gebäude eine Verjüngungskur vertragen könnten. Die Planungen gibt es, 2023 wird es in Mannheim wieder eine Bundesgartenschau geben, die neues Grün schaffen und das bestehende Grün vernetzen und aufwerten soll.

Luisenpark Mannheim, Katrin Korth

Mannheim ist eine Stadt mit Brüchen, mit einer eigenwilligen Geschichte, mit einer Mixtur unterschiedlichster Bürgerinnen und Bürgern, die wie es scheint, nicht viel miteinander zu tun haben. Einige der sogenannten Vielfaltsquartiere in der Stadt sind, wie der Soziologe Konrad Hummel neulich in der ZEIT schrieb, offenbar „Endstation der politischen Nahrungskette“. Quartiere, die deutlich machen, dass Bildungs- und Stadtpolitik, Sicherheit und Demokratieförderung und Investitionen in den öffentlichen Raum, auch mit Radwegen, nicht sektoral sondern nur ressortübergreifend bewältigt werden können.[i]

Der Radfahranteil Mannheims liegt bei 18 %. Verglichen mit anderen fahrradfreundlichen Kommunen in Baden-Württemberg scheint das nicht besonders viel. Die Auszeichnung als fahrradfreundliche Kommune erhielt die Stadt denn auch nicht zuletzt, weil sie „bei der Kommunikation Maßstäbe gesetzt hat“[ii]. 2017 feierte sich Mannheim als Geburtsstadt des Fahrrades. Den Anstoß für die Erfindung des Laufrades gab übrigens eine gravierende Notlage. Der Ausbruch des Vulkans Tambora vor 200 Jahren brachte Hungersnöte und Pferdemangel. Laufräder sollten Pferdefuhrwerke ersetzen, die bis dahin wichtigsten Transportfahrzeuge. Aktuell scheint die Notlage der mit Autos zugestopften Städte noch nicht groß genug zu sein, doch der Blick in die Vergangenheit lässt hinsichtlich unserer heutigen Mobilitätsprobleme hoffen. Radelnd in Mannheim kann man den Schmelztiegel der heutigen Notlage intensiv erleben. Davon abgesehen, die Stadt lohnt einen Besuch, auch wenn sie es Radlerinnen und Radlern nicht ganz einfach macht.

[i] Konrad Hummel: Quartiere ohne Zukunft. In: Die Zeit, 19.07.2018

[ii] Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg, Informationsportal zur Radverkehrsförderung, https://www.fahrradland-bw.de/news/news-detail/mannheim-fahrradfreundliche-kommune/vom/8/12/2017/

Über größenwahnsinnige Kommunalpolitiker

Ich stamme aus Magdeburg. Eine eher kleine Großstadt an der Elbe mit großer Geschichte und mäßiger Gegenwart, trotz Landeshauptstadt und Universität. Im Stadtbild Überreste der früher bestimmenden Schwerindustrie, eine Handvoll historische Gebäude und ein romanisches Kloster, welches längst kein Kloster mehr ist sondern Kunstmuseum und Konzerthalle mit schauerlicher Akustik. Sehenswürdig ist der Dom, 1363 geweiht und früheste fertig gestellte Kathedrale der Gotik auf deutschem Boden. Ansonsten viel Durchschnitt und wenig Großartiges – in einer Stadt, die in zwei Kriegen nahezu komplett zerstört wurde und beim Wiederaufbau hochfliegende, aber städtebaulich höchst fragwürdige Visionen verfolgte. So führten die Wiederaufbaupläne Otto von Guerickes nach dem Dreißigjährigen Krieg zu schnurgeraden, breiten Straßenschneisen, die sich bis heute durch eine technokratische Anmutung auszeichnen. Auf die verheerenden Zerstörungen kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges folgten monumentale Großbauten im Stile des sozialistischen Klassizismus, dazu riesige Aufmarschstraßen und Aufmarschplätze für Großkundgebungen. Einhergehend mit dem Abriss vieler Kirchen entledigte man sich seines historischen Erbes und des gewachsenen Stadtgrundrisses gründlich. Glücklicherweise verhinderte die planvolle Mangelwirtschaft die allerschlimmsten Auswüchse und auf den freigelassenen Flächen entwickelte sich üppiges Stadtgrün, was zumindest aus heutiger Sicht etwas durchaus Versöhnliches hat.

Magdeburg ist bis heute eine Stadt mit Brüchen und Lücken, besonders in der Innenstadt. Von den ehemals kleinteiligen Quartieren blieb viel freie Fläche, überdeckt von Rasen und Baumkarrees. In der Goldgräberzeit der 1990er Jahre verwüsteten Investoren die Stadt mit aneinandergereihten Einkaufzentren, autogerecht erschlossen für Konsumenten, die zur Erfüllung ihrer Konsumbedürfnisse gar keine Stadt brauchen, werden doch alle Wünsche im Inneren der Center erfüllt. Die entstandene Leere im öffentlichen Stadtraum versucht man derweil mit allerlei Festen und Events zu übertünchen. Die Innenstadt hat drei besondere Stadtplätze. Am südlichen Rand der Hasselbachplatz, ein sternförmiger, gründerzeitlicher Verkehrsplatz, der sich in den letzten Jahren zu einem Zentrum des Kneipen- und Nachtlebens entwickelt hat. Der Domplatz mit barocker Prachtbebauung, in der heute der Landtag untergebracht ist. Mittig der Alte Markt mit dem Rathaus, der zentrale Platz, dem allerdings das Zentrum fehlt. Für ihn gibt es jetzt eine Vision. Er soll zu dem herausragenden Ort der Stadt werden. Und so zitierte die örtliche Tageszeitung Volksstimme am 28.02.2018 einen Stadtrat mit den Worten: „ich hoffe, dass es bis zum Kulturhauptstadtjahr einen Alten Markt gibt, wie ihn Paris nicht hat.“

Oha. Ein Platz, wie ihn Paris nicht hat. Ein großer Vergleich.

Deshalb ein Blick in die Erinnerungskiste des letzten Parisbesuchs. Da wäre der königliche Place de Vosges, wundervoll mit seinen Arkaden und Statuen, schattenspendenden Bäumen und großzügigen Rasenflächen. Da wäre der Place Vendome, auch ein königlicher Platz, mit prunkvollen klassizistischen Stadthäusern und der Triumph-Säule. Da wäre der Place de la Concorde, der größte Platz in Paris, verkehrsumtost und gleichzeitig prachtvoll. Da wäre der Place Igor-Stravinsky mit dem Stravinsky-Brunnen, dessen wundersame, wasserspeiende Figuren von Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle an die Werke des Komponisten erinnern. Da wäre der Place de la Republique, nicht der schönste, aber der bedeutendste Platz für die Pariser Stadtgesellschaft und seit seiner verkehrsberuhigten Umgestaltung auch wieder alltäglich erfahrbar. …

Paris ist die Stadt der Plätze. Sie sind prachtvoll und prunkvoll, verspielt und lebendig, erlesen und einzigartig. Sie sind steingewordene Geste des Stolzes der Könige und der bürgerlichen Stadtgesellschaft.

Ein Alter Markt in Magdeburg, wie ihn Paris nicht hat? Der Alte Markt als kultureller Höhepunkt der Kulturstadtbewerbung? Tatsächlich ein hoher Anspruch. Für den internationalen Wettbewerb, unter dem geht es bei diesem Anspruch nicht, haben die Stadträte schon Vorschläge gemacht: „breitere Gehwege, neue Sitzgelegenheiten, Platz für Außengastronomie, Parkverbote, Beleuchtungskonzept, Stromversorgung für Märkte Events, Kunstwerke, neue Oberflächengestaltung, Begrünung“. Inspirierend klingt anders.

Doch ist der Alte Markt eigentlich ein besonderer, herausragender Platz? Historische Fotos zeigen einen typischen Marktplatz, einheitlich gepflastert, die Straßenbahn querte den Platz, in den Gebäuden Geschäfte und Cafés. Nichts Besonderes. Seine Qualität zog der Platz aus den kleinteiligen, barocken Bürgerhäusern, dem Rathaus und dem Gewirr der angrenzenden Straßen und Gassen. Mit den biederen Nachkriegsfassaden der 1950er Jahre kann der Platz diese Qualität schwerlich erreichen. Schlimmer ist aber, dass der Alte Markt nicht mehr in den Stadtgrundriss eingebettet ist. Kein Gewirr von Straßen und Gassen mit geschäftiger Eile, von dem aus man in die Freiheit des Platzes entlassen wird. Statt dessen Straßenzüge ohne Gebäude, große unbebaute Flächen mit Parkplatzödnis und Rasentristesse, die allenfalls als Hundewiese und für den Weihnachtsmarkt nützen. Hinter der historischen Rathausfassade ein Zweckbau, der der geneigten Besucherin die letzte Lust auf die Stadt nimmt. Und überall Zugluft, die von der Elbe bis zum Bahnhof kräftig und ungehindert durch die Straßenschneisen pfeift.

Plätze leben vom Wechselspiel zwischen Gebautem und Nichtgebautem. Plätze leben von der Inszenierung der Übergangszonen zwischen Öffentlichem und Privatem durch Geschäfte und Cafés, all das möglichst kleinteilig der Vielfalt wegen. Plätze erfordern eine grundsätzliche Festlegung, welchem Zweck sie dienen sollen. Erst diese Festlegung eröffnet Möglichkeiten für Besonderes. Plätze, die alles können sollen, sind selten besondere Plätze. Und die Oberflächengestaltung? Sie ist wichtig, aber letztlich nicht entscheidend dafür, ob ein Platz zu einem herausragenden Platz wird. Das zeigt sich an einigen, in den letzten Jahren aufwendig realisierten und dennoch öden Plätzen. Dazu immer wieder der Widerspruch zwischen vermeintlicher Belebung von Plätzen durch Großevents und alltäglicher Belebung. Das ist nicht nur, aber eben auch eine wirtschaftliche Frage. Wenn für die Events und Märkte die Bestuhlung weichen muss, gehen den Betreibern überlebenswichtige Einnahmen verloren. Und als Gast muss ich mir dann andere Plätze suchen udn komme eventuell nicht wieder.

Deshalb lohnt der Blick auf den Domplatz. Für viel Geld sehr aufwendig umgestaltet – mit Wasserspiel, Bäumen, Bänken, um ihn jeden Sommer für zehn Wochen mit einem Freilufttheater samt wenig ansehnlicher Stellagen und Zäune zu überbauen, so dass alle zaghaften Bemühungen der Belebung im Keime erstickt werden.

Der Anspruch, einen Marktplatz zu erschaffen, wie ihn Paris nicht hat, ist nicht nur vermessen, er ist falsch. Zu wünschen wäre Magdeburg einen Marktplatz, der den Bürgerinnen und Bürgern Raum gibt, der einlädt und seine Geschichte nicht verleugnet. Ein Platz, der aus dem wilden Konglomerat beliebig gestalteter Flächen und Bauwerke wirklichen Stadtraum schafft und die Stadt an dieser Stelle repariert. Dafür braucht es Mut, auch zur Bebauung der umliegenden Flächen, damit ein Platz entsteht, der zu Magdeburg passt. Denn das lässt sich von Paris in jedem Fall lernen: Plätze müssen zur Stadt passen und nicht umgekehrt. Ein möglicher Weg wäre ein zunächst städtebaulicher Wettbewerb für das Marktquartier zwischen Breitem Weg, Jacobstraße, Ernst-Reuter-Allee, und Julius-Bremer-Straße. Die Diskussion über die konkrete Gestaltung der Flächen sollte hingegen noch etwas warten.

Das obskure Vergnügen des Friedhofsbesuchs

Wir besuchen Friedhöfe als materialisierte Orte für Trauer und Erinnerung – für das Zwiegespräch mit unseren lieben oder weniger lieben Verstorbenen, zum Ausleben der Trauer. Dabei sind viele Friedhöfe ästhetisch eine Zumutung – unzählige, immer gleiche pompöse und doch langweilige Einheitsgrabsteine, streng rechtwinklig verlaufende Wege, die der Wirtschaftlichkeit des Friedhofsbetriebs gehorchen, kaum Bäume und schließlich Grabbepflanzungen der allerschlimmsten Sorte. Doch manchmal sind Friedhöfe auch wundervolle Parkanlagen und dann möglicherweise die letzten kontemplativen Orte der Besinnung und Pause. Diesem Ideal entsprechen vor allem historische Friedhöfe. Als Gartenkunstwerke zeichnen sie sich nicht selten durch wertvollen Baumbestand aus, haben kunstvolle Grabsteine oder Gebäude und Einfriedungsmauern. Als Parkanlagen sind sie bedeutsamer Lebensraum für vielerlei Tiere. Friedhöfe sind Treffpunkte und Begegnungsorte, von und zwischen den Zurückgebliebenen, ein Stück Sozialraum also. Manche Friedhöfe, insbesondere die mit Ruhestätten berühmter Menschen, sind Pilgerstätten, man denke an den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin oder den Friedhof Montparnasse in Paris. Doch einzigartige und manchmal kuriose oder traurige Geschichten können eigentlich alle Friedhöfe erzählen. Und so erklärt sich vielleicht das seltsame Vergnügungen, Friedhöfe zu besuchen und ihre Geschichten zu entdecken.

Zu den schönsten Friedhöfen in Baden-Württemberg darf der Waldfriedhof der Illenau in Achern gezählt werden. Die Illenau, 1842 gegründet, war im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine der fortschrittlichsten Heil- und Pflegeanstalten für geisteskranke Menschen, berühmt über die Grenzen des Großherzogtums Baden hinaus. Rund 400 Patienten und genauso viele Ärzte, Pfleger und Angestellte lebten auf dem Areal der Illenau mit seinen weitläufigen Gebäudekomplexen, Werkstätten, Äckern, Wiesen sowie Nutz- und Ziergärten. Der Gebäudekomplex ist ein Meisterstück spätklassizistischer Baukunst – nicht Schloss und nicht Kaserne, konzipiert vom visionären und eigenwilligen Klinikgründer Christian Friedrich Wilhelm Roller, der in der Illenau seine Erfahrungen und Forschungsergebnisse zu zeitgemäßer, menschlicher Behandlung von Geisteskranken umsetzte. Zum Konzept der Klinik gehörte Beschäftigung, denn „wenn der Geist nicht beschäftigt wird, beginnt er zu wandern“. Gearbeitet wurde in den Werkstätten und Gärten oder auf den Äckern – die Klinik war Selbstversorger.

Viele der Patienten verbrachten hier lange Zeit, deshalb brauchte es einen eigenen Friedhof – als streitbarer und sehr wahrscheinlich sturköpfiger Generalist hatte Roller auch für den Friedhof seine höchst eigenen Vorstellungen, die er jedoch immer zum Wohle der Patienten einsetzte. Der Friedhof wurde konfessionsübergreifend, katholisch neben evangelisch, tot ist tot. Und er war letzte Ruhestätte für die gesamte Illenaufamilie – denn als solche verstanden sich Patienten, Ärzte, Pfleger und Pflegerinnen, Geistliche, Verwalter, Handwerker und Ökonomen, die denn auch einträchtig auf dem Friedhof nebeneinander ruhen.

Roller nahm auf die Gestaltung des Friedhofs großen Einfluss. Der Waldfriedhof wurde nicht streng geradlinig mit rechtwinkligen Wegen angelegt, sondern als romantische Gartenanlage im Stile eines englischen Landschaftsgartens. 1859 wurde er eröffnet mit geschwungenen und terrassierten Wegen – welche eine sorgsame Planung an jeder Stelle erahnen lassen – eine Anmutung natürlicher Waldlandschaft mit vielen exotischen Bäumen, die Roller eigens in den Schlossgärten von Karlsruhe und Schwetzingen beschaffte. Viele der Patienten entstammten begüterten und berühmten Familien, sie hinterließen ihr Vermögen Stiftungen, die sich um den Fortbestand der Illenau kümmerten. Aus diesen Mitteln wurden nachfolgende Friedhofserweiterungen realisiert, aus Stiftungsmitteln wurde und wird der Friedhof unterhalten.

Die Gräber sind schlicht gehalten und waren eine der wenigen Angelegenheiten, wo sich Roller nicht durchsetzen konnte – er wollte Holzkreuze, doch die Patienten setzten Kreuze aus Metall und steinerne Grabmale durch. Es finden sich neugotische Grabsteine aus der Zeit des Historismus, grazile Jugendstilplastiken, grobe Steinblöcke und einige figürliche Gestaltungen – dennoch insgesamt sehr schlicht. Diese Schlichtheit macht heute den besonderen Reiz des Friedhofs aus.

Die Geschichte der Illenau ist auf das Engste verknüpft mit dem Badischen Großherzogtum, der älteste Sohn von Großherzog Leopold, Ludwig II. – ein lebenslustiger Bursche, bis er an einer unheilbar am Geist erkrankte – war bis zu seinem frühen Tod Patient der Illenau. Doch auch darüber hinaus gab es innige Verflechtungen: Großherzogin Luise (eine Tochter des preußischen Königs und späteren Kaisers Wilhelm I.) und selbst die Kaiserin Augusta pflegten langjährigen Kontakt zu den Klinikdirektoren und Ärzten und förderten deren Entwicklung. Die Illenau übte große Anziehung auf Ärzte aus, die hier lebten und forschten und mit ihrer Arbeit zur Entwicklung eines modernen Psychatriewesens beitrugen.

Fast 2.500 Menschen fanden auf dem Friedhof ihre Ruhe. Die Gräber erzählen Geschichten. Beispielsweise von der kleinen Eugenie, die mit ihrem Stuhl kippelte, umkippte und sich den Schädel brach. Ihr Vater, Patient der Illenau, wünschte sich den Waldfriedhof als Ruhestätte. Ein wundervolles, figürliches Kunstwerk erinnert an die tragische Geschichte.

Klinik und Friedhof erlebten schwere Zeiten. In der Zeit des Ersten Weltkrieges stieg der Krankenstand auf über 700 Patienten. Kriegszitterer, Traumatisierte aus Schlachten und tödlichem Artilleriedonner, fanden hier einen Platz, sicher zwar, doch vom Hunger bedroht. Die Zuteilungen an psychiatrische Einrichtungen wurden knapp bemessen – die Todeszahlen dieser Zeit sind ein beredtes Zeugnis für den unbarmherzigen Umgang mit unnützen Essern. 1940 wurde die Klinik aufgelöst. Der Klinikdirektor kämpfte gegen die drohende Euthanasierung an, dennoch wurden viele der Patienten in Grafeneck ermordet. Anschließend wurde die Illenau eine nationalpolitische Erziehungsanstalt für Südtiroler Mädchen, die großdeutsch werden sollten. Nach Kriegsende wurden ehemalige Zwangsarbeiter untergebracht. Es folgte die Zeit der Französischen Besatzungstruppen, in der die Illenau für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Der Friedhof, im Unterschied zu den Gebäuden immer zugänglich, wurde 1971 Gartendenkmal. Seine schwerste Zerstörung erlebte er jedoch nicht durch den Mensch sondern durch eine Naturkatastrophe. 1999 verwüstete der Orkan Lothar den Friedhof. Vor allem der exotische Baumbestand wurde dabei unwiderbringlich zerstört. Nur langsam erholte sich der Park hiervon wieder.

1999 kaufte die Stadt Achern das Gelände der Illenau, sanierte und restaurierte behutsam und feinfühlig Gebäude und Außenanlagen. Das Rathaus fand hier einen neuen Platz, Landratsamt, Behörden und Firmen zogen ein, dazu kamen Wohnungen und Werkstätten. Entstanden ist ein wundervoller Ort, den man im beschaulichen und ansonsten absolut durchschnittlichen Achern nicht erwarten würde. Für einen Besuch des Friedhofs empfiehlt sich eine der kenntnisreichen Führungen, die von der Achern Tourist Information angeboten werden. Im Anschluss lohnt sich der kurze Spaziergang zur Illenau hinunter, hinein in das Museum, welches einen aufschlussreichen Blick in vergangenen Zeiten ohne Krankenversicherungen ermöglicht. Zum Abschluss lässt sich bei Kaffee und leckerem Kuchen (auch vegan) im integrativ betriebenen Arkadencafè in den schön restaurierten Räumlichkeiten der Illenau vielleicht darüber sinnieren, wie wir heute mit Krankheit und Tod umgehen und wo wir begraben sein wollen. Der Waldfriedhof der Illenau wäre nicht der schlechteste Platz. Leider wird er nicht mehr genutzt.

Die Kunst, in der Hängematte nicht vom Apfel erschlagen zu werden

Mit jedem Jahr wird es mehr: die rastlose Schnelligkeit, die hektische und ergebnisfreie Betriebsamkeit, der tägliche, ärgerliche Stau, der Zeit stiehlt und trotzdem nicht dazu führt, über Alternativen nachzudenken. Dazu die Gleichzeitigkeit des Tuns – Essen, Trinken, Denken, Musikhören, Lesen, Unterhalten, Telefonieren, Fühlen (?). Immer mehr in der gleichen Zeit, die dennoch nicht mehr wird. Mit jedem Jahr steigt die Angst vor Veränderung, während sich um uns herum gerade alles rasend schnell verändert. Oder die Angst vor Entscheidungen, als gäbe es überhaupt noch irgendetwas zu entscheiden. Die Angst vor Fehlern, als wären Fehler nicht einer der großen Antriebe für Entwicklungen. Angst vor Fragen, auf die es keine schnelle Antwort gibt. Oder die Beschränkung durch permanente Erreichbarkeit über Email, Smartphone, WhatsApp, Facebook und Co – und der Zwang der möglichst schnellen Reaktion darauf. Das Bedürfnis, noch das kleinste Erlebnis auf Fotos festzuhalten und in die Welt zu posten, um so von einem scheinbar erfüllten, anspruchsvollen und leichten Leben zu zeugen, dabei wird nur die Menge des Datenmülls immer größer. Der Stress vom Lärm – auf den Straßen, in der Luft, um uns herum und in uns drin. Lärm von vielen Leer- und Füllwörtern, Lärm auch in der Wortlosigkeit, als wäre Schweigen das erste Zeichen eines krachenden Weltuntergangs. Dabei geht die Welt spätestens jeden Morgen im Büro aufs Neue unter, ebenso vor Weihnachten und vor der Sommerpause. Mit jedem Jahr wird das mehr.

Nahezu das einzige Kontrastprogramm zu all dem ist die Urlaubszeit. Wobei es manchmal den Anschein hat, als würden nur weite und spektakuläre Reisen und das Reden und Posten darüber Befriedigung verschaffen. Und wie langweilig klingt denn auch Urlaub auf Balkonien oder Terrassien?

Ich bin gern unterwegs, im Grunde genommen das gesamte Jahr. Deshalb ist mir das Reisen in die Fremde auch manchmal eine Last, die mich erschöpft und vergessen lässt, dass Leben vor allem im Alltäglichen stattfindet. Ein Plädoyer für das HEIMBLEIBEN also.

Fast das Schönste am Heimbleiben ist, dass es mit Ferienbeginn schlagartig leer wird. Die Städte leeren sich (fast), die Dörfer auch. Kein morgendliches Rasen von eiligen Pendlern in der 30er Zone, keine Hupkonzerte an der Ampel, kein Drängeln beim Bäcker. Der Samstag im Dorf, in normalen Zeiten der lauteste Tag der Woche, ruht still – ohne das Geknatter der Rasenmäher und das geschäftige Hin und Her zwischen Grünschnittplatz und Grundstück. Die Restaurants sind leer oder haben geschlossen wegen Urlaub. Pizza gibt es daheim, schmeckt eh besser. Der Wochenmarkt mit seinen bunten Marktständen trödelt nach der Geschäftigkeit der letzten Wochen erschöpft vor sich hin. Der See erholt sich von den Invasionen der Badegäste an den letzten Julitagen. Kein Kindergeschrei auf der Liegewiese, das morgendliche Türkisgrün des Wassers muss nur noch mit den wenigen emsigen Schwimmerinnen und Schwimmern geteilt werden. Die quitschbunten Luftmatratzen und Badetiere aus billigem, stinkendem Kunststoff schwimmen jetzt im Mittelmeer. Einzig die Autobahn hat Dauerstau.

Schön am Heimbleiben ist das Wiederfinden der Vergänglichkeit, in der gleichzeitig die Zeit stehen bleibt. Altbekannte Lieblingsorte, immer gleich und jeden Tag anders. Das Spätsommerlicht, welches Waldwege und Bäche mit seinem spinnenumwobenen Licht verzaubert. Das belanglose Nachmittagsgespräch über den Gartenzaun hinweg, der Spaziergang auf staubigen Feldwegen und das nasse Gras am Morgen, dass den Herbst ankündigt. Die Jungschwalben, die sich nachmittags auf den Dachziegeln sonnen und dann mit kunstvollem Flügelschlag im Pulk Schnaken jagen. Das unermüdliche Klock-Klock vom Buntspecht. Der Geruch vollreifen und bereits fauligen Obstes, das dumpfe Geräusch fallender Äpfel. Der Spätsommerwind, der die ersten Nüsse vom Walnussbaum weht. Der Duft von Marmelade und süßem, klebrigem Saft, das Goldgelb frisch ausgegrabener Kartoffeln und die unvergleichliche Süße reifer Tomaten – direkt vom Strauch genascht. Der wunderbare Überdruss ob der Berge Äpfel, Zwetschgen und Sommerpfirsiche. Dazu Mostbirnen, für die es kaum noch Verwendung gibt, seit das Mosttrinken aus der Mode gekommen ist. Die angenehme Müdigkeit, wenn das Tagwerk vollbracht ist.

Langsamkeit und Gleichmut für eine Langeweile. Ein bisschen ist es so wie in den endlos langen Sommern der Kindheit. Es schafft Platz im Innern. Platzmachen für Leib und Seele.  Keine Zeitung und keine Nachrichten stören, in diesen Momenten lässt sich alles ausblenden: Flüchtlinge, Bienensterben, Klimawandel, Abgasbetrug. Die Welt dreht sich ein paar Wochen ohne uns.

Die einzige wirkliche Herausforderung in diesem Paradies ist die, in der Hängematte nicht von einem Apfel erschlagen zu werden.

Park-Häuser für Menschen oder der vertikale Park

Wer gelungene urbane Freiräume und Parks erleben will, der/die muss in die Schweiz fahren. Auch wenn ich mir dazu immer wieder anhören muss: „ja, aber die haben halt Geld“. Das stimmt, doch bahnbrechende Konzepte haben nicht nur etwas mit Geld zu tun, sondern vor allem mit vorurteilsfreien Ideen und Mut.

Ein Park, dessen Gestaltung sicher einiges an Mut erfordert hat (selbst in der Schweiz), ist der MFO-Park in Zürich. Seine Gestaltung ist auch ein Beitrag zur Debatte „urbane Wand und Dachbegrünung/Stadt im Zeichen des Klimawandels“, die hier in einer sehr speziellen und überraschenden Form auf einen Park übertragen wurde.

Kurz beschrieben ist der MFO-Park ein grüner Parcour auf dem Grundriss einer alten Industriehalle, der sich über eine Gerüstkonstruktion vertikal in die Höhe erhebt. Ein „Park-Haus“ sozusagen, nur für Menschen und Tiere. Fast vollständig berankt von Wildem Wein, Glyzinien, Knöterisch und Pfeifenwinden.

Mit einer Fläche von 105 x 55 m ist der Park eigentlich nur ein kleiner Taschenpark, doch dafür ist er so hoch wie die Nachbarbebauung, 4 bis 5 Geschosse. Park hoch drei. Eine doppelwandige Stahlkonstruktion trägt die Rankhilfen und beherbergt Treppenläufe, Wandelgänge in verschiedenen Höhen und Loggien.

Tritt man hinein in das Innere, wird man empfangen von einer fast märchenhaften Stimmung, aller Krach und alle Geschäftigkeit bleibt zurück, Vögel zwitschern, Sonnenstrahlen schieben sich durch die Blätterhülle, die bunten (und betretbaren) Glasscherben auf dem Boden blinken und blitzen. Der kleine Brunnen verzaubert, als käme gleich der Froschkönig aus dem Wasser (und auch wenn natürlich alle wissen, dass das Märchen vom Froschkönig ein gigantischer Schwindel ist … vielleicht, wenn man nur lang genug wartet). Die Treppen sind steil und nichts für Schwindelanfällige, aber es zieht einen unweigerlich nach oben. Der Aufstieg wird belohnt durch ein spektakuläres Sonnendeck mit Ausblick über die Dächer Zürichs.

Der MFO-Park wurde nach der Maschinenfabrik Oelikon benannt. Er steht exmplarisch für die Entwicklung von Zürich Nord, den Wandel eines ehemaligen reinen Industrieviertels und Stadtentwicklung, die konsequent den Freiraum mitdenkt. Der Entwurf von Burckhardt + Partner und Raderschall Landschaftsarchitekten AG ging aus einem Wettbewerb hervor und wurde 2002 realisiert. Es ist ein kontemplativer Park, für die Mittagspause, die stille Stunde, das Liebespaar, das Lesevergnügen auf dem Dach, vielleicht für Yoga oder Taijiquan, vielleicht für kleines Theater oder Stummfilmklassiker. Doch das braucht es auch in unserer lauten, schnellen Welt. Keine Ahnung, was das Ganze gekostet hat. Doch eine geniale Idee und gelungene Umsetzung, die Nachahmung sucht in Zeiten des Klimawandels und städtischer Luftverschmutzung.

Reutlingen und die Brunnen, zu schön um wahr zu sein.

In etwas geänderter Form erschien dieser Beitrag dieser Tage im rv-bildertanz.blogspot.com/

Hier noch mal der Fokus ganz speziell auf die Brunnen Reutlingens gerichtet, die tatsächlich etwas Besonderes, Bemerkenswertes und Beschreibenswertes sind.

Reutlingen in Baden-Württemberg! Eine mittelgroße Stadt im Südwesten, wer kennt die schon? (Pardon, Reutlingen ist natürlich eine Großstadt). Dennoch haftet der Stadt etwas Kleinstädtisches an. Und wo immer man hinkommt, muss man erklären, wo Reutlingen liegt: südlich von Stuttgart – naja, neben Tübingen – geht gar nicht bei all der Konkurrenz zwischen beiden Städten, in der Tübingen immer strahlender scheint.

Was macht also eine Stadt, die aus der Mittelmäßigkeit der Wahrnehmung hinauswill? Sie kreiert eine MARKE. Jüngst kündigte die Oberbürgermeisterin einen Markenbildungsprozess an, damit die Stadt endlich als das wahrgenommen wird, was sie ist: strahlend, kulturell herausragend, mit einer gefühlt hohen Baukultur, sozialen Segnungen, einer prosperierenden Wirtschaft, die aber dennoch zu wenig Steuern in die Stadtkasse spülen, einer großen Tradition als Reichsstadt. Und trotzdem ist Reutlingen offenbar weitgehend unbekannt.

Nun ist das mit Markenbildungsprozessen so eine Sache, Kopfgeburten meist und wenn sie als Top-Down-Prozess durchgeführt werden, nicht selten zum Scheitern verurteilt oder doch mit erheblichen Gefahren verbunden, wenn irgendwann das, was die Marke propagiert, von den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich eingefordert wird. Marken haben es an sich, dass sie beliebig sind, Slogan, die auch nach hinten losgehen können. Man denke an Karlsruhe: VIEL VOR VIEL DAHINTER oder lieber VIEL DAVOR UND NIX DAHINTER, wie es im Volksmund gern heißt? Meist haben die Städte ein starkes Bedürfnis nach einer Marke, die sich eben nicht durch irgendetwas Exklusives, Besonderes auszeichnen (was auf Karlsruhe gar nicht zutrifft, doch wer würde schon Kassel kennen, gäbe es da nicht die DOCUMENTA)

Dennoch hat jede Stadt Besonderheiten, die sie liebenswert machen, und die vor allem für die eigenen Bürgerinnen und Bürger wichtig sind. Oder auch die Region, aber eben nicht für ganz Deutschland, Europa oder die Welt. Und ist das wirklich wichtig? Bekannt sein in der ganzen Welt?

Für Reutlingen fallen mir einige Besonderheiten ein. Das prägende industrielle Erbe, welches bis zur Unkenntlichkeit verschwunden ist, als würde man sich dessen schämen. Die wundervollen Feste und Veranstaltungen wie Weindorf, Neigeschmeckt Markt und Garden Life, die auch nicht alle nur beliebt sind. Die fast vergessene große Tradition des pomologischen Institutes und seine Wiedergeburt im Streuobstparadies, in der Stadt leider bisher weitgehend unbeachtet. Das Biosphärengebiet, doch das ist ja die Schwäbische Alb und nicht die Stadt. Eine ganz nette Altstadt mit ein bisschen Kultur, auch wenn schon seit Jahren verzweifelt versucht wird, eine überregionale Kulturstadt zu werden, die Reutlingen bei aller Sympathie wohl (trotz der wundervollen Württemberger Philharmonie und einiger ganz netter Museen) nicht werden wird und vielleicht auch gar nicht muss.

Eine Besonderheit sind die Brunnen. Nur wenige Städte der Größe Reutlingens haben mehr davon. Die Nachbarstadt Tübingen (es lebe die permanente Konkurrenz) hat 42).

Dieses und letztes Jahr kamen zwei neue hinzu, konzipiert und geplant von der Autorin dieser Zeilen, die sich zu ihrer Brunnenliebhaberei gern öffentlich bekennt. Die Brunnen könnten also eine neue Ära im Umgang mit dem manchmal ungeliebten Thema eröffnen, weshalb sich ein wohlwollender Blick lohnt.

Fast 90 Brunnen schmücken Reutlingen, städtische und dörfliche, große und kleine, alte und ganz neue – mit unglaublichen Geschichten, die viel mit der Geschichte der Reichsstadt Reutlingen zu tun haben, geliebt von den Bürgerinnen und Bürgern, gern vergessen von den Stadtoberen – außer natürlich bei Einweihungen- trotz widriger finanzieller Bedingungen sorgsam gehegt von der städtischen Grünpflegeabteilung.

Da ist der Maximilianbrunnen auf dem Marktplatz, ein prachtvoller Renaissancebrunnen, 1570 zu Ehren des Kaisers Maximilian II. errichtet, um ihn zu bewegen, der Stadt die Zunftrechte zurückzugeben. Diese waren der widerspenstigen Stadt entzogen worden, die protestantisch bleiben wollte und sich den Rekatholisierungsversuchen erfolgreich zu Wehr setzte. Es ging um das Prinzip und der Preis war hoch, denn Zunftrechte waren seinerzeit die Basis für Wohlstand. Die Lehre daraus: Wie macht man sich die Mächtigen gefügig, denn der Plan ging auf. 1578 erhielt Reutlingen die für die Stadt so wichtigen Zunftrechte zurück.

Kaiser Maximilian Brunnen – schon immer trafen sich vor allem Frauen am Brunnen (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da ist der Kaiser Friedrichbrunnen, ebenfalls ein Renaissancebrunnen von 1561 mit einer streng dreinblickenden, abweisenden Figur, die an den Verleiher der reichsstädtischen Rechte im Jahr 1180 erinnert. Herrscher mussten noch nie freundlich sein, das ist heute ein bisschen anders.

Da ist der Lindenbrunnen, ein kunstvoller gotischer Dreipfeilerbrunnen, der einzige seiner Art, der sich nördlich der Alpen erhalten hat, 1544 errichtet, als das gotische Zeitalter schon lange überwunden und der Moderne der Renaissance gewichen schien. Doch man war in Reutlingen offenbar schon immer besonders traditionell.

Da ist der Brunnen im Volkspark, der erst 80 Jahre nach seiner Planung gebaut wurde – die Landesgartenschau machte es möglich. Vorher wollte man zwar mit einem spektakulären Entwurf groß hinaus, endete aber doch schwäbisch pietistisch beim Sparen, befördert durch schwere Zeiten.

Da ist der Gerberbrunnen, in einer Zeit entstanden, als Wichtigeres anstand als Brunnenbau, und der an die große städtische Tradition der Gerber und Färber erinnert und deshalb wohl auch wichtig für die Stadtgesellschaft war. Gerberbrunnen und Gartentorbrunnen dienten übrigens lange Zeit zum Gautschen, diesem feinen Ritus zum Ende der Lehrzeit, bei dem die frisch gebackenen Gesellen von ihren Unarten und Schandtaten freigesprochen werden. Eine Tradition, untergegangen mit den Berufen der Gerber, Färber und Buchdrucker. Schade eigentlich.

Gartentorbrunnen und das Gautschen der Buchdrucker (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da ist der Rathausbrunnen, eine prachtvolle Anlage der frühen 60er Jahre, zusammen mit dem Rathaus entstanden, der Stolz der Stadt. Heute ist der Glanz beider (Rathaus und Brunnen) verblichen und gebadet werden darf schon lange nicht mehr.

Rathausbrunnen – Baden verboten heißt es heute (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da waren die 1980er Jahre, eine große Zeit für die Reutlinger Brunnen. Der feinsinnige Baubürgermeister ließ viele neue errichten. Ein Beispiel dafür ist der Handwerkerbrunnen in der Altstadt. Brunnen waren wichtig für die Bürger, er hat es erkannt.

In den letzten Jahren zwei neue Anlagen, beide nicht unumstritten, aus Sicht der Autorin beide notwendig. Der im Bürgerpark steht für ein modernes, junges Reutlingen, und wer hätte je gedacht, dass BÜRGERPARK eben nicht nur ein Marketinggag ist, sondern sich mit Leben füllen lässt – trotz Störfeuer einiger verbissener Hygienefanatiker. Viel Arbeit war das, gelohnt hat es sich. Der Wasserlauf auf dem Weibermarkt verbindet die Geschichte der Stadtbäche mit neuen, zeitgemäßen Raumaneignungen. Man darf gespannt sein, was im Umfeld passiert.

Wasserspiel im Bürgerpark – Name ist nicht immer nur Schall und Rauch (Foto: Markus Niethammer)

Es gäbe noch mehr zu erzählen.

Natürlich kosten Brunnen Geld, doch sie sollten es uns wert sein. Brunnen sind eben viel mehr als nur ein bisschen schmückendes Beiwerk. Sie zeigen Stadtgeschichte im Großen und Kleinen, Geschichten von Macht und von der Rolle der Menschen in der Stadt, von Begegnungen, auch von Streit und Versöhnung. Sie sind Zeichen und wichtige Begegnungsorte für die Stadtgesellschaft, am Brunnen trifft man sich…das war schon immer so. Nicht zuletzt deshalb gibt es in einigen Städten Patenschaften und Vereine, die sich um das Wohlergehen der Brunnen einsetzen, auch finanziell.

An dieser Stelle könnte man enden, gäbe es da nicht den Listplatzbrunnen oder vielmehr das, was übrig ist von ihm.

Wie kaum ein anderer Zeichen für den großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruch nach Kriegsende. Viele Menschen erinnert gerade dieser Brunnen an ihre Kindheit und Jugend oder das Ankommen in der Heimat, wenn man aus dem Bahnhof trat. In einer Hauruckaktion zur Verschönerung des Bahnhofsplatzes 1954 errichtet. Mit dem typischen nierenförmigen Becken, mit Fontänen und nachts farbig illuminiert. Die Reutlinger pilgerten in Scharen hin. Dennoch war er in den letzten Jahren ungeliebtes Kind der Stadtplanung, die in einer sogenannten Rahmenplanung City Nord lieber freie Sichtachsen und steinerne Plätze propagiert. Für einen altbackenen Brunnen war da kein Platz mehr. Für die Autorin war der Beschluss zum Zuschütten des Brunnens einer der schlimmen Momente ihrer Reutlinger Berufszeit, sie hätte den Brunnen gern erhalten, doch das hätte eben Geld und politischen Willen erfordert. Der öffentliche Sturm der Entrüstung war denn aber doch überraschend, berechtigt war er und Ausdruck einer fatalen Fehleinschätzung der Bedeutung dieses Brunnens.

Listplatzbrunnen 2012 – schon stillgelegt, aber noch nicht zugeschüttet (Foto: Katrin Korth)

In der Zeit danach hat die Autorin einige Menschen angesprochen, durchaus respektable Persönlichkeiten der Stadtgesellschaft, ob sie sich nicht eine gemeinsame Aktion zur Rettung des Brunnens vorstellen könnten. Leider erhielt sie nur Absagen.
So tröstet sie sich mit einem privaten Sponsoring in ihrer Geburtsstadt Magdeburg, mit dem der Betrieb eines feinen kleinen Brunnens gesichert wird. Und immer mal wieder sinniert sie darüber, was denn wäre, wenn sich für den Listplatz Sponsoren finden würden. Ganz im Sinne der „Köpfe für Reutlingen“ und ihrem berühmten Zitat von Kennedy: fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt.

Die Autorin wäre bereit für ein TUN, wenn sich denn Mitstreiterinnen und Mitstreiter fänden.

Zum Wohnen braucht es Häuser, zum Leben Parks: der Park am Gleisdreieck in Berlin

Der Fokus der Stadtentwicklung liegt seit je her auf dem gebauten Raum. Das ist manchmal schade, denn das Lebenswerte einer Stadt wird viel stärker durch den Freiraum bestimmt. Vor allem Parks haben  ein hohes Identifikationspotenzial für die Stadtgesellschaft – nicht zuletzt angesichts vieler zunehmend gesichtsloser, immer gleicher Gebäude.

Häuser sind die Voraussetzung für Wohnen, zum Leben braucht es Parks.

Der Park am Gleisdreieck ist so ein identifikationsstiftender Park. Er ist dies wegen seiner faszinierenden Vorgeschichte, auch wegen seiner Gestaltung, vor allem aber wegen der Art und Weise seiner Nutzungsangebote.

Seine Lage im Stadtgrundriss: in den Schnittpunkten verschiedener Bahnlinien und auf der Fläche zweier ehemaliger Güterbahnhöfe, von denen aus ab dem 19. Jahrhundert die wachsende Stadtbevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgt werden konnte. Nirgendwo sonst kreuzen sich in Berlin so viele Wege aus Ost und West, Nord und Süd.

Seine Verortung im politischen Berlin: unmittelbar angrenzend an den das „großmannssüchtige“ Investorenallerlei Potsdamer Platz, zwischen Kreuzberg und Schöneberg im Spannungsfeld kiezorientierten Miteinanders und ausgeprägter Drogenszene.

Seine Geschichte: in den 1970er Jahren gehörten große Teile des Areals der Reichsbahn der DDR, eine vom sozialistischen Menschen befreite Enklave in der DDR, die dafür reichlich Raum bot für die alternative Szene (West)Berlins. In den frühen 1990er Jahren sollt hier eine Stadtautobahn gebaut werden, verhindert durch massive Proteste der Bürgerschaft. So blieb ein eingezäuntes Gelände, Spielball unterschiedlicher Interessen der Stadtpolitik. Die Sukzession tat ein Übriges und machte aus der Wildnis Wald. Ab Mitte der 1990er Jahre wurde die Fläche genutzt für die Baulogistik des Potsdamer Platzes.

Dem Potsdamer Platz in all seiner Investorenmittelmäßigkeit sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt, denn die notwendigen Ausgleichszahlungen für die baulichen Eingriffe waren Voraussetzung für den Bau des Parks.

Das Ergebnis: kein kuscheliger Park mit einem lieblich überformten Gelände oder einer strengen und letztlich langweiligen Rasterung, oder harmonisch geschwungenen Wegen, hübschen Mauern und Sitzstufen oder den immer gleichen Spielplätzen für Kinder. Sondern ein Park mit mehr als 30 Hektar Fläche, wo der Himmel weiter nicht sein könnte, der mehr als anderswo in Berlin tatsächlich großstädtisch ist. Ein Ort, der offen mit der Industrie- und Stadtgeschichte als Bahnareal umgeht; ein Ort, der immer noch an vielen Stellen nach Infrastruktur aussieht; ein Ort der laut ist und gleichzeitig still. Ein Ort, in dem scheinbar alle ihren Platz finden: Hundebesitzer, Jogger, Skater, Familien mit Kindern, Gartenliebhaber, Sozialromantiker, Spaziergänger und Menschen, für die der Park Treffpunkt und Ausgleich vom hektischen Großstadtleben ist, arme Menschen, reiche Menschen. Ein urbaner Begegnungsort im besten Sinne, in dem man stets aufpassen muss, dass man nicht von rasenden Radfahrern umgefahren wird.

Das Konzept: einfach und durchdacht. Mit zentralen Rasen- und Wiesenflächen, seitlichen Baumsäumen und üppigen Resten des früheren Bahngelände-Ruderalwaldes. Dazu schnurgerade, breite Wege, an den Eingangs- und Randbereichen Spielplätze, Sportanlagen, Skateplätze, Sitzdecks und Flächen für Aufenthalt und Bewegung – alles sehr nutzungsoffen. Kleingärten, die erhalten bleiben konnten, Gemeinschaftsgärten, gestaltet ungestaltete Naturerfahrungsräume für Kinder, an den Eingängen Kioske und WC`s. Der Park hat eine intensive Programmierung, das ist so gewollt und hierbei dennoch mehr viel mehr als die Summe von Einzelteilen. Alle Angebote fügen sich wie selbstverständlich in den Raum ein, ergänzen sich und bilden so ein stimmiges Ganzes.

Das landschaftliche Narrativ ist nirgends aufgesetzt, sondern aus dem Ort heraus entwickelt und damit allgemein verständlich. Der offene Umgang mit den unterschiedlichen Zeitschichten schafft prägnante Raumbilder. Schotterflächen, die an die Bahngeschichte anknüpfen, ebenso wie speziell angepasste Staudenbeete oder die Prellböcke und Gleisreste, die sich überall im Park verstreut finden. Lediglich die Eingänge und Übergänge in die angrenzenden Stadtteile könnten offener gestaltet sein. Und die angrenzende Bebauung ist zumeist die typische gesichtslose Bebauung durch Bauträger. Über diese Mängel lässt sich jedoch wegschauen.

Das Besondere: seine Gestaltung und seine Nutzungsangebote sind niederschwellig und schließen niemanden aus. In seiner Gesamtheit bildet er die Pluralität der Stadtgesellschaft ab. Zudem ist eine Weiterentwicklung des Parks möglich und auch explizit gewünscht. Ein Park also, der nicht fertig ist und der unterschiedliche Aneignungen verträgt und will. Ein Ort des „weniger Reglementierten“ innerhalb unserer üblicherweise hochgradig determinierten und überregulierten Stadträume.

Und so verdient der Park den Namen Bürgerpark im besten Sinne. Bürgerinnen und Bürger haben den Park ermöglicht und sich für ihre Bedürfnisse eingesetzt. Bürgerinnen und Bürger nutzen den Park, eignen ihn sich an, ab morgens bis spät in die Nacht.

Und das ist eigentlich die gute Nachricht.

Architektur und Wasser

Schon mal vorab: die Internationale Gartenschau in Berlin ist unbedingt einen Besuch wert. Denn hier findet sich wirklich herauragende Gartenkunst, und vor allem, immer wieder das perfekte Zusammenspiel von Architektur (gebaut oder gewachsen) mit Wasser. Zum weinen schön. Da macht es nicht eimal etwas, wenn das Wetter nur bedingt mitspielt.

Über Lindenbäume

Dass Münster die Hauptstadt der Fahrradfahrenden ist, wusste ich. Wirklich überrascht war ich aber von den vielen Lindenbäumen in der Stadt. Linden, nahezu überall und reichlich. Die Linde ist ja nicht ganz einfach als Stadtbaum, auch wenn sie sich stadtklimatisch meist gut eignet und die perfekte Bienenpflanze ist. Aber Blattläuse lieben Linden leider auch und der Honigtau, den sie absondern, ist eine ziemlich klebrige und unangenehme Sache: färbt Bodenbeläge, verklebt Bänke, den Autolack und auch die Fahrräder. Doch nichts geht über den betörenden Lindenduft zur Blütezeit im Juni und Juli, der mich immer ganz schummrig im Kopf macht. Wunderbar. Und so spazierte ich durch Münster, staunte darüber, wieviele Fahrradfahrer in eine Stadt passen und wie gemütlich das trotzdem sein kann und landete schließlich auf dem Domplatz mit seinem merkwürdig verbauten und gestückelten, halb romanischen und halb gotischen Dom, dessen Türme etwas zu breit und zu kurz geraten sind. Auf dem Platz einer der größten und schönsten Wochenmärkte, voller Menschen und sehr entspannt trotz Regen. All das gerahmt von Linden – großen und kleinen, alten und jungen als Baumhaine und frei, schier gar wahllos, verteilt als Solitäre, dazu ein altes Natursteinpflaster. Das war so schön, dass ich mir unweigerlich die Frage stellen musste, warum manch neuer Platz trotz aufwendiger Planung so trostlos daherkommt? Neigen wir dazu, alles totzuplanen und  sollten wir bei den Bäumen nicht einfach mutiger sein? Dann tropft es eben.