Reutlingen und die Brunnen, zu schön um wahr zu sein.

In etwas geänderter Form erschien dieser Beitrag dieser Tage im rv-bildertanz.blogspot.com/

Hier noch mal der Fokus ganz speziell auf die Brunnen Reutlingens gerichtet, die tatsächlich etwas Besonderes, Bemerkenswertes und Beschreibenswertes sind.

Reutlingen in Baden-Württemberg! Eine mittelgroße Stadt im Südwesten, wer kennt die schon? (Pardon, Reutlingen ist natürlich eine Großstadt). Dennoch haftet der Stadt etwas Kleinstädtisches an. Und wo immer man hinkommt, muss man erklären, wo Reutlingen liegt: südlich von Stuttgart – naja, neben Tübingen – geht gar nicht bei all der Konkurrenz zwischen beiden Städten, in der Tübingen immer strahlender scheint.

Was macht also eine Stadt, die aus der Mittelmäßigkeit der Wahrnehmung hinauswill? Sie kreiert eine MARKE. Jüngst kündigte die Oberbürgermeisterin einen Markenbildungsprozess an, damit die Stadt endlich als das wahrgenommen wird, was sie ist: strahlend, kulturell herausragend, mit einer gefühlt hohen Baukultur, sozialen Segnungen, einer prosperierenden Wirtschaft, die aber dennoch zu wenig Steuern in die Stadtkasse spülen, einer großen Tradition als Reichsstadt. Und trotzdem ist Reutlingen offenbar weitgehend unbekannt.

Nun ist das mit Markenbildungsprozessen so eine Sache, Kopfgeburten meist und wenn sie als Top-Down-Prozess durchgeführt werden, nicht selten zum Scheitern verurteilt oder doch mit erheblichen Gefahren verbunden, wenn irgendwann das, was die Marke propagiert, von den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich eingefordert wird. Marken haben es an sich, dass sie beliebig sind, Slogan, die auch nach hinten losgehen können. Man denke an Karlsruhe: VIEL VOR VIEL DAHINTER oder lieber VIEL DAVOR UND NIX DAHINTER, wie es im Volksmund gern heißt? Meist haben die Städte ein starkes Bedürfnis nach einer Marke, die sich eben nicht durch irgendetwas Exklusives, Besonderes auszeichnen (was auf Karlsruhe gar nicht zutrifft, doch wer würde schon Kassel kennen, gäbe es da nicht die DOCUMENTA)

Dennoch hat jede Stadt Besonderheiten, die sie liebenswert machen, und die vor allem für die eigenen Bürgerinnen und Bürger wichtig sind. Oder auch die Region, aber eben nicht für ganz Deutschland, Europa oder die Welt. Und ist das wirklich wichtig? Bekannt sein in der ganzen Welt?

Für Reutlingen fallen mir einige Besonderheiten ein. Das prägende industrielle Erbe, welches bis zur Unkenntlichkeit verschwunden ist, als würde man sich dessen schämen. Die wundervollen Feste und Veranstaltungen wie Weindorf, Neigeschmeckt Markt und Garden Life, die auch nicht alle nur beliebt sind. Die fast vergessene große Tradition des pomologischen Institutes und seine Wiedergeburt im Streuobstparadies, in der Stadt leider bisher weitgehend unbeachtet. Das Biosphärengebiet, doch das ist ja die Schwäbische Alb und nicht die Stadt. Eine ganz nette Altstadt mit ein bisschen Kultur, auch wenn schon seit Jahren verzweifelt versucht wird, eine überregionale Kulturstadt zu werden, die Reutlingen bei aller Sympathie wohl (trotz der wundervollen Württemberger Philharmonie und einiger ganz netter Museen) nicht werden wird und vielleicht auch gar nicht muss.

Eine Besonderheit sind die Brunnen. Nur wenige Städte der Größe Reutlingens haben mehr davon. Die Nachbarstadt Tübingen (es lebe die permanente Konkurrenz) hat 42).

Dieses und letztes Jahr kamen zwei neue hinzu, konzipiert und geplant von der Autorin dieser Zeilen, die sich zu ihrer Brunnenliebhaberei gern öffentlich bekennt. Die Brunnen könnten also eine neue Ära im Umgang mit dem manchmal ungeliebten Thema eröffnen, weshalb sich ein wohlwollender Blick lohnt.

Fast 90 Brunnen schmücken Reutlingen, städtische und dörfliche, große und kleine, alte und ganz neue – mit unglaublichen Geschichten, die viel mit der Geschichte der Reichsstadt Reutlingen zu tun haben, geliebt von den Bürgerinnen und Bürgern, gern vergessen von den Stadtoberen – außer natürlich bei Einweihungen- trotz widriger finanzieller Bedingungen sorgsam gehegt von der städtischen Grünpflegeabteilung.

Da ist der Maximilianbrunnen auf dem Marktplatz, ein prachtvoller Renaissancebrunnen, 1570 zu Ehren des Kaisers Maximilian II. errichtet, um ihn zu bewegen, der Stadt die Zunftrechte zurückzugeben. Diese waren der widerspenstigen Stadt entzogen worden, die protestantisch bleiben wollte und sich den Rekatholisierungsversuchen erfolgreich zu Wehr setzte. Es ging um das Prinzip und der Preis war hoch, denn Zunftrechte waren seinerzeit die Basis für Wohlstand. Die Lehre daraus: Wie macht man sich die Mächtigen gefügig, denn der Plan ging auf. 1578 erhielt Reutlingen die für die Stadt so wichtigen Zunftrechte zurück.

Kaiser Maximilian Brunnen – schon immer trafen sich vor allem Frauen am Brunnen (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da ist der Kaiser Friedrichbrunnen, ebenfalls ein Renaissancebrunnen von 1561 mit einer streng dreinblickenden, abweisenden Figur, die an den Verleiher der reichsstädtischen Rechte im Jahr 1180 erinnert. Herrscher mussten noch nie freundlich sein, das ist heute ein bisschen anders.

Da ist der Lindenbrunnen, ein kunstvoller gotischer Dreipfeilerbrunnen, der einzige seiner Art, der sich nördlich der Alpen erhalten hat, 1544 errichtet, als das gotische Zeitalter schon lange überwunden und der Moderne der Renaissance gewichen schien. Doch man war in Reutlingen offenbar schon immer besonders traditionell.

Da ist der Brunnen im Volkspark, der erst 80 Jahre nach seiner Planung gebaut wurde – die Landesgartenschau machte es möglich. Vorher wollte man zwar mit einem spektakulären Entwurf groß hinaus, endete aber doch schwäbisch pietistisch beim Sparen, befördert durch schwere Zeiten.

Da ist der Gerberbrunnen, in einer Zeit entstanden, als Wichtigeres anstand als Brunnenbau, und der an die große städtische Tradition der Gerber und Färber erinnert und deshalb wohl auch wichtig für die Stadtgesellschaft war. Gerberbrunnen und Gartentorbrunnen dienten übrigens lange Zeit zum Gautschen, diesem feinen Ritus zum Ende der Lehrzeit, bei dem die frisch gebackenen Gesellen von ihren Unarten und Schandtaten freigesprochen werden. Eine Tradition, untergegangen mit den Berufen der Gerber, Färber und Buchdrucker. Schade eigentlich.

Gartentorbrunnen und das Gautschen der Buchdrucker (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da ist der Rathausbrunnen, eine prachtvolle Anlage der frühen 60er Jahre, zusammen mit dem Rathaus entstanden, der Stolz der Stadt. Heute ist der Glanz beider (Rathaus und Brunnen) verblichen und gebadet werden darf schon lange nicht mehr.

Rathausbrunnen – Baden verboten heißt es heute (Foto: Stadtarchiv Reutlingen)

Da waren die 1980er Jahre, eine große Zeit für die Reutlinger Brunnen. Der feinsinnige Baubürgermeister ließ viele neue errichten. Ein Beispiel dafür ist der Handwerkerbrunnen in der Altstadt. Brunnen waren wichtig für die Bürger, er hat es erkannt.

In den letzten Jahren zwei neue Anlagen, beide nicht unumstritten, aus Sicht der Autorin beide notwendig. Der im Bürgerpark steht für ein modernes, junges Reutlingen, und wer hätte je gedacht, dass BÜRGERPARK eben nicht nur ein Marketinggag ist, sondern sich mit Leben füllen lässt – trotz Störfeuer einiger verbissener Hygienefanatiker. Viel Arbeit war das, gelohnt hat es sich. Der Wasserlauf auf dem Weibermarkt verbindet die Geschichte der Stadtbäche mit neuen, zeitgemäßen Raumaneignungen. Man darf gespannt sein, was im Umfeld passiert.

Wasserspiel im Bürgerpark – Name ist nicht immer nur Schall und Rauch (Foto: Markus Niethammer)

Es gäbe noch mehr zu erzählen.

Natürlich kosten Brunnen Geld, doch sie sollten es uns wert sein. Brunnen sind eben viel mehr als nur ein bisschen schmückendes Beiwerk. Sie zeigen Stadtgeschichte im Großen und Kleinen, Geschichten von Macht und von der Rolle der Menschen in der Stadt, von Begegnungen, auch von Streit und Versöhnung. Sie sind Zeichen und wichtige Begegnungsorte für die Stadtgesellschaft, am Brunnen trifft man sich…das war schon immer so. Nicht zuletzt deshalb gibt es in einigen Städten Patenschaften und Vereine, die sich um das Wohlergehen der Brunnen einsetzen, auch finanziell.

An dieser Stelle könnte man enden, gäbe es da nicht den Listplatzbrunnen oder vielmehr das, was übrig ist von ihm.

Wie kaum ein anderer Zeichen für den großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruch nach Kriegsende. Viele Menschen erinnert gerade dieser Brunnen an ihre Kindheit und Jugend oder das Ankommen in der Heimat, wenn man aus dem Bahnhof trat. In einer Hauruckaktion zur Verschönerung des Bahnhofsplatzes 1954 errichtet. Mit dem typischen nierenförmigen Becken, mit Fontänen und nachts farbig illuminiert. Die Reutlinger pilgerten in Scharen hin. Dennoch war er in den letzten Jahren ungeliebtes Kind der Stadtplanung, die in einer sogenannten Rahmenplanung City Nord lieber freie Sichtachsen und steinerne Plätze propagiert. Für einen altbackenen Brunnen war da kein Platz mehr. Für die Autorin war der Beschluss zum Zuschütten des Brunnens einer der schlimmen Momente ihrer Reutlinger Berufszeit, sie hätte den Brunnen gern erhalten, doch das hätte eben Geld und politischen Willen erfordert. Der öffentliche Sturm der Entrüstung war denn aber doch überraschend, berechtigt war er und Ausdruck einer fatalen Fehleinschätzung der Bedeutung dieses Brunnens.

Listplatzbrunnen 2012 – schon stillgelegt, aber noch nicht zugeschüttet (Foto: Katrin Korth)

In der Zeit danach hat die Autorin einige Menschen angesprochen, durchaus respektable Persönlichkeiten der Stadtgesellschaft, ob sie sich nicht eine gemeinsame Aktion zur Rettung des Brunnens vorstellen könnten. Leider erhielt sie nur Absagen.
So tröstet sie sich mit einem privaten Sponsoring in ihrer Geburtsstadt Magdeburg, mit dem der Betrieb eines feinen kleinen Brunnens gesichert wird. Und immer mal wieder sinniert sie darüber, was denn wäre, wenn sich für den Listplatz Sponsoren finden würden. Ganz im Sinne der „Köpfe für Reutlingen“ und ihrem berühmten Zitat von Kennedy: fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt.

Die Autorin wäre bereit für ein TUN, wenn sich denn Mitstreiterinnen und Mitstreiter fänden.

Zum Wohnen braucht es Häuser, zum Leben Parks: der Park am Gleisdreieck in Berlin

Der Fokus der Stadtentwicklung liegt seit je her auf dem gebauten Raum. Das ist manchmal schade, denn das Lebenswerte einer Stadt wird viel stärker durch den Freiraum bestimmt. Vor allem Parks haben  ein hohes Identifikationspotenzial für die Stadtgesellschaft – nicht zuletzt angesichts vieler zunehmend gesichtsloser, immer gleicher Gebäude.

Häuser sind die Voraussetzung für Wohnen, zum Leben braucht es Parks.

Der Park am Gleisdreieck ist so ein identifikationsstiftender Park. Er ist dies wegen seiner faszinierenden Vorgeschichte, auch wegen seiner Gestaltung, vor allem aber wegen der Art und Weise seiner Nutzungsangebote.

Seine Lage im Stadtgrundriss: in den Schnittpunkten verschiedener Bahnlinien und auf der Fläche zweier ehemaliger Güterbahnhöfe, von denen aus ab dem 19. Jahrhundert die wachsende Stadtbevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgt werden konnte. Nirgendwo sonst kreuzen sich in Berlin so viele Wege aus Ost und West, Nord und Süd.

Seine Verortung im politischen Berlin: unmittelbar angrenzend an den das „großmannssüchtige“ Investorenallerlei Potsdamer Platz, zwischen Kreuzberg und Schöneberg im Spannungsfeld kiezorientierten Miteinanders und ausgeprägter Drogenszene.

Seine Geschichte: in den 1970er Jahren gehörten große Teile des Areals der Reichsbahn der DDR, eine vom sozialistischen Menschen befreite Enklave in der DDR, die dafür reichlich Raum bot für die alternative Szene (West)Berlins. In den frühen 1990er Jahren sollt hier eine Stadtautobahn gebaut werden, verhindert durch massive Proteste der Bürgerschaft. So blieb ein eingezäuntes Gelände, Spielball unterschiedlicher Interessen der Stadtpolitik. Die Sukzession tat ein Übriges und machte aus der Wildnis Wald. Ab Mitte der 1990er Jahre wurde die Fläche genutzt für die Baulogistik des Potsdamer Platzes.

Dem Potsdamer Platz in all seiner Investorenmittelmäßigkeit sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt, denn die notwendigen Ausgleichszahlungen für die baulichen Eingriffe waren Voraussetzung für den Bau des Parks.

Das Ergebnis: kein kuscheliger Park mit einem lieblich überformten Gelände oder einer strengen und letztlich langweiligen Rasterung, oder harmonisch geschwungenen Wegen, hübschen Mauern und Sitzstufen oder den immer gleichen Spielplätzen für Kinder. Sondern ein Park mit mehr als 30 Hektar Fläche, wo der Himmel weiter nicht sein könnte, der mehr als anderswo in Berlin tatsächlich großstädtisch ist. Ein Ort, der offen mit der Industrie- und Stadtgeschichte als Bahnareal umgeht; ein Ort, der immer noch an vielen Stellen nach Infrastruktur aussieht; ein Ort der laut ist und gleichzeitig still. Ein Ort, in dem scheinbar alle ihren Platz finden: Hundebesitzer, Jogger, Skater, Familien mit Kindern, Gartenliebhaber, Sozialromantiker, Spaziergänger und Menschen, für die der Park Treffpunkt und Ausgleich vom hektischen Großstadtleben ist, arme Menschen, reiche Menschen. Ein urbaner Begegnungsort im besten Sinne, in dem man stets aufpassen muss, dass man nicht von rasenden Radfahrern umgefahren wird.

Das Konzept: einfach und durchdacht. Mit zentralen Rasen- und Wiesenflächen, seitlichen Baumsäumen und üppigen Resten des früheren Bahngelände-Ruderalwaldes. Dazu schnurgerade, breite Wege, an den Eingangs- und Randbereichen Spielplätze, Sportanlagen, Skateplätze, Sitzdecks und Flächen für Aufenthalt und Bewegung – alles sehr nutzungsoffen. Kleingärten, die erhalten bleiben konnten, Gemeinschaftsgärten, gestaltet ungestaltete Naturerfahrungsräume für Kinder, an den Eingängen Kioske und WC`s. Der Park hat eine intensive Programmierung, das ist so gewollt und hierbei dennoch mehr viel mehr als die Summe von Einzelteilen. Alle Angebote fügen sich wie selbstverständlich in den Raum ein, ergänzen sich und bilden so ein stimmiges Ganzes.

Das landschaftliche Narrativ ist nirgends aufgesetzt, sondern aus dem Ort heraus entwickelt und damit allgemein verständlich. Der offene Umgang mit den unterschiedlichen Zeitschichten schafft prägnante Raumbilder. Schotterflächen, die an die Bahngeschichte anknüpfen, ebenso wie speziell angepasste Staudenbeete oder die Prellböcke und Gleisreste, die sich überall im Park verstreut finden. Lediglich die Eingänge und Übergänge in die angrenzenden Stadtteile könnten offener gestaltet sein. Und die angrenzende Bebauung ist zumeist die typische gesichtslose Bebauung durch Bauträger. Über diese Mängel lässt sich jedoch wegschauen.

Das Besondere: seine Gestaltung und seine Nutzungsangebote sind niederschwellig und schließen niemanden aus. In seiner Gesamtheit bildet er die Pluralität der Stadtgesellschaft ab. Zudem ist eine Weiterentwicklung des Parks möglich und auch explizit gewünscht. Ein Park also, der nicht fertig ist und der unterschiedliche Aneignungen verträgt und will. Ein Ort des „weniger Reglementierten“ innerhalb unserer üblicherweise hochgradig determinierten und überregulierten Stadträume.

Und so verdient der Park den Namen Bürgerpark im besten Sinne. Bürgerinnen und Bürger haben den Park ermöglicht und sich für ihre Bedürfnisse eingesetzt. Bürgerinnen und Bürger nutzen den Park, eignen ihn sich an, ab morgens bis spät in die Nacht.

Und das ist eigentlich die gute Nachricht.

In welcher Stadt wollen wir leben? Gedanken über Reutlingen und darüber hinaus

Erwiderung und Ergänzung zum Reutlinger Bildertanz: In welcher Stadt wollen wir leben? http://rv-bildertanz.blogspot.de/

Wieder ein klugkritischer Bericht im Bildertanz, über das Unbehagen mit moderner Architektur und Stadtplanung, über wahnwitzige Ideen von Architekten, über Tradition und Moderne, das Verhältnis von Architektur und Macht, über die Rückkehr des Hochhauses in die Stadt und die Vielfalt des Lebens. Wunderbar. Nach wie vor ist der Bildertanz in Reutlingen einer der wenigen Orte und damit viel mehr als nur ein soziales Medium, an dem der Diskurs über Stadtentwicklung in Reutlingen versucht wird. Das macht ihn so unersetzbar.

Gleichzeitig erzeugen die Beiträge und Diskussionen mitunter ein Unbehagen bei mir. Viel pauschales „Alles schlecht heute“ und „böse Stadtplaner und Bürgermeister, die alles Schöne abreißen“. Auch im aktuellen Beitrag fand sich dieser Unterton, dass den Bürgerinnen und Bürgern schreckliche moderne Architektur und Stadtplanung übergestülpt würde und sie dem hilflos ausgesetzt wären.

Wird Architektur und Stadtplanung den Menschen übergestülpt? Charlie Bildertanz richtete den Blick auf die letzten 50 Jahre mit schönen Beispielen und Zitaten wie dem, dass der Krieg eigentlich viel zu wenige Häuser zerstört habe, welches Oskar Kalbfell zugeschrieben wird – und dass ich auch von mehreren anderen, zum Teil namhaften Stadtplanern, Politikern und Bürgermeistern aus dieser Zeit kenne. Dem von (vermeintlich) gesichtsloser Stadtplanung geplagten Reutlinger spricht das aber sicher aus der Seele: seht, bei uns ist es schon immer am Schlimmsten. Ist es nicht, besuchen Sie mal Darmstadt, danach wird Ihnen Reutlingen wie ein Kleinod vorkommen.

Der Blick auf die letzten 50 Jahre reicht für die berechtigte Kritik an der Moderne nicht. Architektur und Stadtplanung der Nachkriegszeit und ebenso die schrecklichen Auswüchse heute sind nicht zu verstehen ohne das 19. Jahrhundert und das gigantische Wachstum der Städte, die Enge und den Schmutz, die furchtbaren sozialen und hygienischen Zustände ohne sauberes Trinkwasser mit verschlammten Straßen und schmutzigen Fabriken, welche Abgase und Abwasser ungereinigt über die Menschen ergossen. Die aktuellen Feinstaubbelastungen sind dagegen ein Fliegenschiss. Architektur und Stadtplanung der Nachkriegszeit sind auch nicht zu verstehen ohne Berücksichtigung der sozialen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie Gartenstadt- und Volksparkbewegung und das Neue Bauen, vor allem aber nicht ohne die Charta von Athen aus dem Jahr 1933. In ihr wurde die funktionsräumliche Trennung von Arbeiten, Wohnen, Erholen und Bewegen als städtebauliches Leitbild festgeschrieben, die im Grunde genommen bis heute praktiziert wird. Ziel war die Beseitigung sozialer Missstände, Nebeneffekt war eine gigantische Zerschneidung von Stadträumen mit riesigen Verkehrsmagistralen, weiten Wegstrecken zwischen Arbeit und Wohnen – und infolge dessen immer leistungsfähigere technische Fortbewegungsmittel (S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn). Auch das Auto wäre ohne die funktionsgetrennte Stadt nicht denkbar – enge Altstadtgassen brauchen kein Auto, die funktionsgetrennte Stadt mit ihren weiten Wegen schon. Die funktionsgetrennte Stadt hat den Niedergang der Innenstädte und Städte beschleunigt, die Großsiedlungen mit öden Blocks und Hochhäusern sind sichtbare Zeichen dieser Zeit. Nicht zuletzt deshalb setzte in den späten 1960er Jahren eine breite gesellschaftliche Debatte über den Niedergang der Städte ein (neben Bürgerinitiativen, Architekten, Stadtplaner und selbst der Deutsche Städtetag). In der Folge wurden Landesdankmalschutzgesetze verabschiedet und erste städtebauliche Erneuerungsprogramme zur Vitalisierung der historischen Stadtkerne aufgelegt. Dass sich aktuell in einigen Städten (und auch in Reutlingen) die Wiederkehr des Hochhauses gefeiert wird, ist eine unglückselige Fußnote der jüngeren Geschichte, wider besseren Wissens, was qualitätsvolle Stadtplanung bedeutet. Hochhäuser zu errichten, um die Rückkehr der Menschen in die Stadt und das Wachstum der Städte zu bewältigen, ist das Dümmste, was man tun kann, denn Dichte und Urbanität lässt sich damit nicht erzeugen. Für die Stadt sind Hochhäuser eine Katastrophe, sie sind lebensfeindlich, zumindest wenn man eine lebendige Stadt im Sinne des Leitbildes der europäischen, urbanen Stadt will. Auch fürs Stadtklima sind Hochhäuser schlecht. Und wie man sich als Mensch zwischen den verschatteten Beton- und Glasfassadenschluchten fühlt, kann man in Frankfurt erleben. Nur aus der Entfernung hat das Hochhaus einen gewissen Charme. Doch die Skyline ist eben nur ein Abbild der Stadt und nicht die Stadt selbst.

Der Krieg hat beim Niedergang der Stadt eine eher geringe Rolle gespielt – die Zeit der großen Stadtzerstörung war die Nachkriegszeit. Einen gewichtigen Teil am Niedergang der Stadt hatte und hat die autogerechte Stadt, das lässt sich in Reutlingen bis heute gut ablesen. Sechsspurige und achtspurige Straßen sind kein Lebensraum, sie sind Platzverschwendung. Für diese Straßen wurde viel Stadtraum zerstört und keine noch so gut gelungene moderne Bebauung kann das wieder gut machen. Möglicherweise fragt man sich an dieser Stelle, wie denn die vielen Menschen in die Stadt kommen sollen ohne Auto. Ich kenne nicht wenige Menschen in Reutlingen, deren Arbeitsweg weniger als 5 km lang ist (und bei diesen Wegen ist das Fahrrad eindeutig im Vorteil) und die dennoch jeden Tag das Auto nutzen, manchmal mit der Begründung eines schlechten ÖPNV, oft aber aus reiner Bequemlichkeit. Übrigens (auch das ist eine Fußnote der Geschichte, allerdings mit besserem Ausgang) sollte auch die Tübinger Altstadt nach dem Krieg abgerissen werden, nur Rathaus, Schloss und Kirche sollten stehen bleiben, auf dass die Stadt autogerecht werde. Welch ein Glück, dass dies nicht passiert ist, der erwartete Verkehrskollaps ist auch ausgeblieben, auch wenn das manch einer immer noch anders sieht. Dafür entstand eine Stadt mit hoher Lebensqualität.

Aus dem fachlichen Blickwinkel heraus ist es allerdings problematisch, dass sich Stadtplanung und Architektur mitunter schwer tun mit dem Bestand und viel lieber neu bauen. Das war früher so und ist heute immer noch nicht viel besser. Einer der wenigen, dem beispielsweise in Reutlingen ein guter Umgang mit der vorhandenen Bausubstanz gelungen ist, war Prof. Engels, der frühere Baubürgermeister. Die funktionsgerechte Stadt war damit für Politiker, die offensichtlich am liebsten Einweihungen feiern, sondern auch für viele Stadtplaner ein Segen, so konnten sie sich im Neubau austoben. Gleichwohl hat die funktionsgetrennte Stadt auch Gutes hervorgebracht , die Wohnqualität ist deutlich gestiegen, es gibt in den Stadtvierteln ausreichend Grün- und Freizeitflächen, Abwasserentsorgung funktioniert, schließlich wurden schmutzige Industrien aus den Innenstädten und Wohnquartieren verbannt.

Nun kann man noch beklagen, dass die Stadtplanung in der Vergangenheit und auch der Nachkriegszeit nicht demokratisch sondern von oben verordnet war. Und trotz formeller Beteiligungsinstrumente scheint sie auch heute noch vielfach undemokratisch zu sein. Gleichzeitig ist das mit der Demokratie so eine Sache, denn manches lässt sich nur schwerlich demokratisch entscheiden. Fahre ich mit dem Auto zur Arbeit, wird mein Interesse in gut ausgebauten Straßen und grünen Wellen liegen. Laufe ich zu Fuß oder lebe an einer vielbefahrenen Straße, leide ich wahrscheinlich unter dem Gestank der Abgase und wünsche mir die Autos (vor meiner Haustüre) weg. Betrachte ich mein Ladengeschäft in der Innenstadt, dann möchte ich viele Parkplätze direkt vor der Tür. Betrachte ich die gesamte Altstadt, dann sind Parkplätze für die Erlebbarkeit der Stadt höchst abträglich. Es braucht also eine Abwägung, fachlich und politisch.

 

Unser Blick auf Architektur und Stadtplanung hat dennoch viel mit unserer persönlichen Wahrnehmung und unserer eigenen Haltung zu tun. Wir haben als Menschen alle – jeder auf seine oder ihre Art (ich nehme mich da nicht aus) – einen Beitrag geleistet, dass die Städte heute sind wie sie sind. Wir wollen das großzügige Einfamilienhaus im ruhigen Ortsteil mit Parkplatz direkt vor dem Haus anstatt beengt in der Innenstadt zu leben. Wir wollen möglichst verkehrsgünstig an den Schnellstraßen leben, doch abgeschieden genug, dass der Verkehrslärm nicht stört. „Alle“ lieben historische Altstädte, und dennoch wollten nicht wenige Besitzer (Alteingesessene übrigens überwiegend) wollten lieber am ruhigen Stadtrand wohnen, haben ihre Immobilien lange Zeit sträflich vernachlässigt und häufig den maximalen Profit bei der Vermietung herausgezogen oder die Gebäude wenig sensibel verändert. Und wer will schon in Häusern mit steilen Treppenstiegen, dunklen Zimmern und Deckenhöhen von unter zwei Metern leben? Wir bestehen auf maximaler Individualität (z.B. freie Fahrt für freie Bürger, kostenlose Parkplätze für alle), auch wenn wir eigentlich wissen sollten, dass dies dann zu Lasten anderer Dinge geht, meistens derjenigen, die keine Lobby haben. Wir wünschen uns individuelle Architektur und wohnen selbst oft freiwillig in gesichtslosen Häusern, quadratisch, praktisch gut. Wir wollen eine durchgrünte, baumbestandene Stadt mit Staudenbeeten und Sommerflor, selbst fällen wir aber die großen Bäume auf unserem Grundstück, denn sie machen Arbeit (alternativ pflanzen wir erst gar keine), wir legen in unseren Vorgärten Schotterflächen an, die mit Beet so rein gar nichts mehr zu tun haben, weil das so praktisch ist und verzichten auf die Geranien auf dem Balkon, denn die machen auch nur Arbeit. Wir stören uns am Verkehrslärm und legen jeden noch so kurzen Weg mit dem Auto zurück.

Wir sind Teil des Systems. Und welche Architektur und Stadtplanung wünschen wir uns nun? Bei dieser Antwort blieb Charlie leider etwas schwammig: die Vielfalt des Lebens, nun ja. Ich nenne es lebenswerte Stadt (nach Jan Gehl, der dazu viel Kluges geschrieben und auch geplant und gebaut hat). Um herauszufinden, was lebenswerte Stadt sein kann, hilft der Blick auf die historische Stadt und gleichzeitig die Beobachtung der Menschen und ihrer Vorlieben und Bedürfnisse. Lebenswerte Stadt inszeniert die Übergänge zwischen Innen und Außen, schafft Nutzungsmischung und individuelle Wohnungsgrundrisse für eine vielfältige Bewohnerschaft. Der Schlüssel ist das Zusammenspiel von aktiver, sozial indizierter Wohnraum- und Freiraumentwicklung. Lebenswerte Stadt redet nicht nur von „Stadt der kurzen Wege“, sondern schafft Quartiere, in denen die Erdgeschosse öffentlich genutzt werden durch Cafés, Restaurants, Läden, Arztpraxen, Büros und Werkstätten. Lebenswerte Stadt braucht Parzellen und eine kleinteilige Architektur, den klaren Nutzen eines Bauvorhabens für das Quartier und nicht die ewig gleichen Gebäude und Gebäudefluchten in weiß/grau/schwarz. Lebenswerte Stadt plant und baut breite Fuß- und Radwege, hat einen guten ÖPNV (auch abends und nachts) der Stadtbaum ist wichtiger als eine überbreite Straßenkreuzung und es gibt Stadtplätze, die nicht nur Steinwüsten sind, sondern zum Aufenthalt einladen. So entsteht Vielfalt – bei den Häusern, im Stadtraum und bei den Menschen. Und so entsteht eine Stadt, in der die Menschen gern und freiwillig draußen sind und sich begegnen, denn das will Stadt letztlich sein: die Möglichkeit der Begegnung. All das fördert wiederum die Sicherheit, denn was nutzt es, dass beispielsweise Reutlingen eine der sichersten Großstädte Deutschlands ist, doch nach 19.00 Uhr die Straßen leer sind, was vor allem Angst erzeugt.  Aber vielleicht sollen ja die Menschen daheim bleiben?

Darüber braucht es eine Diskussion, und dafür braucht es stadtplanerische Instrumente, die es ja alle gibt, die man eben nur anwenden muss. Dann verträgt eine Stadt auch sehr gut Investoren, die meiner Auffassung jede Stadt braucht, die aber klare Vorgaben benötigen über das, was eine Stadt will (Mir hat übrigens mal ein Architekt gesagt, dass man sich in Reutlingen nicht anstrengen müsste, denn die Stadt genehmigt eh alles und dass die Investoren und Architekten ganz gut auch mit mehr Vorgaben leben könnten). Es braucht ein Leitbild für die Stadt, und hierbei geht es nicht um das Positionieren von Häusern im Stadtgrundriss oder die Anzahl der Kindergartenplätze, sondern um die gewünschte Qualität der Stadt- städtebaulich, ökologisch, sozial. Aber, auch das ist eine Bedingung für gute Stadtentwicklung, die lebenswerte Stadt braucht Vorbilder, die genau das vorleben.

Architektur und Wasser

Schon mal vorab: die Internationale Gartenschau in Berlin ist unbedingt einen Besuch wert. Denn hier findet sich wirklich herauragende Gartenkunst, und vor allem, immer wieder das perfekte Zusammenspiel von Architektur (gebaut oder gewachsen) mit Wasser. Zum weinen schön. Da macht es nicht eimal etwas, wenn das Wetter nur bedingt mitspielt.