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Der Traum von lebenswerter Stadt … und warum unsere Städte doch meist immer gleich aussehen

Regelmäßig werde ich zu Vorträgen und Diskussionen über Stadtgestaltung eingeladen, gern mit dem Schwerpunkt auf Planung für Kinder und Jugendliche. Ich erzähle über Strategien und Konzepte und zeige launige Bilder von realisierten kinder- und jugendfreundlichen Stadträumen. (so hat es beispielsweise in Reutlingen davon mittlerweile einige und es freut mich jedes Mal, wenn ich sehe, wie intensiv die genutzt werden.) Ich spreche über die Gründe für erfolgreiche Projektentwicklung und lebenswerte Stadtgestaltung. Und ich mache das gern, die Diskussionen sind meistens interessant. Schließlich wünschen sich – nahezu alle Menschen – Planende udn Entscheider in freien Büros in den Stadtverwaltungen, Gemeinderäte, Bürgerinnen und Bürger – qualitätsvolle Stadtgestaltung.

Meist ist das Erstaunen groß, was alles in einer Stadt möglich ist, wenn man die Bedürfnisse der Menschen konsequent berücksichtigt, anstatt nur davon zu reden. Denn tatsächlich wird in Planungsprozessen immer noch zu wenig über die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer diskutiert, trotz aller Partizipation, obwohl das kaum jemand zugeben wird. Stattdessen reden über Funktionen, Sichtachsen, über übergreifende Gestaltungsziele und gestalterische Details, auf die es meist überhaupt nicht ankommt. All das wird aber verpackt in intellektuell hochtrabende Worthülsen, zum Beispiel von der Stadt der kurzen Wege, obwohl es keine Kneipe im Quartier gibt, die nächste Einkaufmöglichkeit der Supermarkt am Stadtrand ist, der öffentliche Freiraum nicht zum Aufenthalt einlädt, sich die Kinder auf dem Weg zum Spielplatz zwischen einer Armada parkender Autos durchschlängeln müssen, es zwar Gehwege gibt, diese aber nicht zum Gehen einladen.

Die Stadt der kurzen Wege scheint immer noch zu bedeuten, dass der Weg zwischen Wohnung und parkendem Auto möglichst kurz ist. Und überhaupt … wird diese Worthülse vor allem dort benutzt, wo die Stadt alles andere als menschenfreundlich ist.

Worüber reden wir in der Planung? Keine Frage, gute Gestaltung ist wichtig. Und doch verlieren wir uns häufig im Kleinklein der Gestaltung, dass wir dann mit den beschriebenen Worthülsen umschreiben, damit das Kleinklein nicht so auffällt. Wir diskutieren über die richtigen Steinformate, die Farbe von Steinen, das Aussehen von Bänken (als wäre nicht auch wichtig, wie sich auf ihnen sitzen lässt), über die die Art und Qualität von Bäumen, über die finale Barrierefreiheit, und, und, und.

Und dann reden wir offenbar leidenschaftlich gern über  nicht beachtete oder vermeintlich nicht beachtete Sicherheit, über Risse im Beton, über riskante Absturzhöhen von Kinderspielgeräten oder fehlende Wasserqualität von Brunnen, die am besten Trinkwasserqualität haben sollten, damit der letzte Sicherheitsfanatiker befriedigt ist, auch wenn das kompletter Unsinn ist. Nicht selten passiert all das nach dem Motto: wer am lautesten schreit hat Recht, befeuert auch von der örtlichen Presse, immer auf der Suche nach dem ultimativen Fehler der Planenden oder der Verwaltungen. Bei diesen Diskussionen zeigt sich ein weiteres Phänomen: das Phänomen des Schlechtredens und der Suche nach dem Haar in der Suppe.

Deutschland: Land der Nörgler und Meckerer. Deutschland: Land der immerwährenden Suche nach den Schuldigen. Deutschland: Land der Besserwisser. Deutschland: Land der ewig Unzufriedenen. (Anmerkung. Deutschland lässt sich hier durch beliebige Ortsnamen austauschen)

Und wenn mal etwas gelingt im Stadtraum … selbst dann finden sich die Meckerer und Nörgler: zu voll, zu steinern, zu wenig integriert, zu wenig Schatten, zu wenig Bäume oder zu viel Bäume, zu schnell kaputt oder abgenutzt, zu dreckig, die übersteigerte Sorge, dass das Wasser im Wasserspiel zu dreckig sei und die gefährliche Straße zu nah dran … oder … das Ganze einfach nicht schön. Denn in unserer neoliberalen Welt mit seinem Fokus auf absoluter individueller Selbstverwirklichung muss Stadtgestaltung immer auch JEDEM gefallen. So wird erbittert über Gestaltung, Wasserqualität oder schlecht wachsende Bäume diskutiert, über Kleinkinder auf Skateplätzen, über die Notwendigkeit von Zäunen, damit Bälle nicht auf die Straße rollen und was immer da noch in den Sinn kommen mag.

Viel zu wenig diskutieren wir über die tatsächlichen Bedürfnisse von Menschen, von Kindern und Jugendlichen. Über das, was wir als Erwachsene dafür tun können, damit Kinder und Jugendliche frei und bewegt aufwachsen können. Über das, was wir tun können, damit wir uns selbst wohlfühlen. Über das, was wir tun können, um Stadträume mit Anreizen für den Aufenthalt zu schaffen. Über das, was wir tun können, um gesichtslose, immer gleiche Stadträume zu vermeiden, frei von jeglichen Möglichkeiten für Aneignung. Diese gesichtslosen Stadträume entstehen übrigens auch deshalb, weil ängstliche Entscheider und Entscheiderinnen jegliche Fehler vermeiden und es allen Recht machen wollen (dabei ist doch bekannt, dass diese Kunst noch niemandem wirklich gelang) oder weil sie auch noch dem letzten in der Stadt ihren mittelmäßigen, von aller Kreativität freien und langweiligen persönlichen Gestaltungsgeschmack aufoktroyieren wollen.

Also: Erinnern wir uns häufiger an unsere eigene Kindheit und seien wir nicht so brav und langweilig. Erinnern wir uns daran, wie wir uns im Urlaub im Süden wohlfühlen, wo es nicht so geleckt ist wie bei uns. Seien wir großzügig, diskutieren über das Mögliche und versuchen das Unmögliche. Und freuen wir uns, dass wir das alles dürfen.

Lebenswerte Stadt?

Landauf landab werben große und kleine Städte für die lebenswerte Stadt. Meistens machen sie das mit ihren aufwendig sanierten und aufgehübschten Innenstädten. Konkret bedeutet das: kostspieliges Natursteinpflaster (selbstverständlich garantiert ohne Kinderarbeit produziert), Cafés für die eiligen Banker und Hippster, Einzelhandel mit oft den immer gleichen Ketten, seltener inhabergeführter Handel, ab und zu ein Baum oder eine Bank, manchmal ein Brunnen und ab und zu ein Wipptier für die Kleinen (Familienfreundlichkeit ist wichtig). Dazu große Mülleimer für die Wegwerfgesellschaft und eine schier endlose Menge an Schildern, Leittafeln und Werbung, damit man auch noch den letzten Laden findet und keine Sehenswürdigkeit verpasst. Viel Geld wurde und wird vergraben mit mehr oder weniger gutem Ergebnis. Hinzu kommen einige Parks und Grünanlagen, vielleicht ein paar Meter Spazierwege entlang von Bächen oder Flüssen, einige Kinderspielplätze und vielleicht noch ein paar prestigeträchtige neue Fahrradwege. Bis hierhin sind sich eigentlich alle einig, Lebenswerte Stadt ist so ungefähr das.

Doch interessant wird es bei einem anderen Thema, welches mindestens genauso viel mit lebenswerter Stadt zu tun hat: Verkehr.

Fahrradfahren finden viele wichtig (in der Kommunalpolitik ist dieses Bewußtsein mittlerweile parteiübergreifend verankert), gleichzeitig sollte der motorisierte Individualverkehr möglichst ungestört weiterfahren können. Der ÖPNV könnte besser sein, aber das kostet ja so viel Geld. Innerstädtische Parkplätze  müssten eigentlich viel billiger werden, denn sonst kommen die Menschen nicht mehr zum Einkaufen in die Stadt. Parkraumbewirtschaftung ist unnütz, denn die Straße gehört schließlich den Autos.

Soweit die üblichen Argumente, in unterschiedlichen Variationen vorgetragen. Wozu das führt? Man kann es in vielen Städten beobachten. Breite Straßenschneisen gefüllt mit Autos, in denen man sich mit dem Fahrrad im besten Fall nur unwohl fühlt, in denen die Fußgänger nur unter Lebensgefahr die Fahrbahn queren können. Gehwege, auf denen man zu zweit nicht nebeneinander laufen kann, auf denen kein Baum Schatten spendet und keine Bank zum Ausruhen einlädt. Die Ödnis und Langeweile großer Auto-Parkplatzflächen sucht ihresgleichen, aber wehe, ein Parkplatz fällt weg. Tiefgaragenaufgänge und Fußgängerunter- und -überquerungen sind Angsträume, genauso wie die abends verlassenen Busbahnhöfe. Viele Wohnquartiere versprechen Leben und dienen tatsächlich nur dem Schlafen – ohne Geschäfte, Praxen, kleine Werkstätten und die vielgerühmte Eckkneipe. Noch immer – trotz Leipzig Charta und Leitbild Europäische Stadt sind viele Städte weit entfernt von lebenswert.

Der Grund liegt in der Funktions- und Nutzungstrennung. Dessen sichtbarstes Element ist die Lichtsignalanlage. Sie vermittelt Regeln und für den Fußgänger scheinbar Sicherheit und dient doch nur der Verflüssigung des Autoverkehrs (auch wenn viele Autofahrende beharrlich behaupten, Ampeln wären immer rot). Nutzungstrennung findet sich nahezu überall in unseren Stadträumen: auf dem aus Sicherheitsgründen eingezäunten Spielplatz oder dem umzäunten Sportplatz, auf der Hundewiese, in der Einbahnstraße und in der Fußgängerzone, in der nicht mehr gewohnt wird oder eben in Wohngebieten, in denen aufgrund ihrer Bebauungsstruktur jede Art der beruflichen Tätigkeit unmöglich ist. Funktions- und Nutzungstrennung bewirken ein Nebeneinander und sie vergessen den Menschen, der bei all dieser Funktionalität keinen Platz mehr findet.

Die lebenswerte Stadt hingegen geht vom Tempo des Fußgängers und Radfahrenden aus und respektiert das menschliche Maß. So entstehen Räume, in denen sich Menschen begegnen können, in denen alte Menschen und Kinder vergleichsweise gefahrlos in der Stadt bewegen können, mit Räumen und Häusern, die Lust machen auf Entdeckung, mit generationen- und schichtenübergreifenden Nutzungsangeboten und mit der Freiheit für eine Aneignung frei von festgelegten Normierungen. Lebenswerte Stadt braucht den überschaubaren Stadtplatz, die verkehrsberuhigte Straße, den Stadtteilpark, sie braucht Häuser mit öffentlichen Erdgeschossnutzungen und eben nicht das Hochhaus oder den monumentalen, abweisenden Solitär mit seinem Abstandsgrün drum herum, dass notwendig ist, damit die Fernwirkung überhaupt deutlich wird. Lebenswerte Stadt fördert und ermöglicht Aneignung und sie ruft danach, Straßen, Vorgärten, Plätze und Quartiere zu Fuß und mit dem Rad zu entdecken.

Historische Altstädte und Gründerzeitquartiere haben es manchmal noch, dieses besondere Flair der lebenswerten Stadt. Bei wenigen neuen Stadtquartieren gelingt die lebenswerte Stadt. Und doch muss sie planerisches und politisches Ziel werden. Hierbei geht es auch nicht um irgendeine Parteiideologie oder die Verteufelung oder alternativ Beschwörung des Automobils. Es geht um die Basis für soziale Teilhabe, für ein Miteinander der Gesellschaft sprichwörtlich auf Augenhöhe, es geht um Klimaschutz, es geht auch um Gesundheit (Bewegungsmangel ist eines der größten Probleme der heutigen Gesellschaft und das ist vor allem ein volkswirtschaftliches Thema).

Es geht bei Architektur und Stadtplanung, auch bei Freiraumplanung viel weniger um Form, sondern „um die Interaktion von Form und Leben, also um die Dinge, die sich zwischen Häusern abspielen. Dieses Leben zwischen den Häusern ist zugegebenermaßen komplizierter zu planen als irgendein vermeintlich großartiges Stück Architektur. Was auch der Grund ist, weshalb es so selten versucht wird.“

Diesem Satz von Jan Gehl ist nichts hinzuzufügen, außer, dass wir es dennoch versuchen sollten.